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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Reicke, Ilse: Das Dichten in psychologischer Betrachtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0352
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DAS DICHTEN IN PSYCHOLOGISCHER BETRACHTUNG. 345

Ausdruck Klarheit, dem Versbau Bedeutung, dem Klang der Worte
Anmut und Leben zu geben: aber bloß damit diese Dinge gar nicht,
vielmehr einzig und allein der Gedanke, den sie einschließen, erscheine.
Denn das ist die Eigenschaft aller echten Form, daß der Geist augen-
blicklich und unmittelbar daraus hervortritt, während die mangelhafte
ihn, wie ein schlechter Spiegel, gebunden hält und uns an nichts er-
innert als an sich selbst« (Brief eines Dichters an einen anderen).

Endlich aber stellt Form einfach für Ausdruck überhaupt. In diesem
Sinne faßte Oskar Wilde dieses Wort, wie aus seiner oben (S. 53)
angeführten Anmerkung hervorgeht. In diesem Sinne umfaßt das
Wort »Form« Darstellung und Gestaltung in gleicher Weise.
Dieser Begriff »Form« läßt uns verstehen, warum Hebbel sagt: »Es
hält sehr schwer, nicht bloß die Dinge und Anlässe, die poetische
Ideen und Empfindungen in unserer Seele erwecken, sondern auch
diese Ideen und Empfindungen selbst für Stoff zu halten.« In
diesem Sinne verstehen wir sein Wort: »Die Form ist der höchste
Inhalt,« sowie das Wort Nietzsches: »Man ist um den Preis Künstler,
daß man das, was alle Nichtkünstler ,Form' nennen, als ,Inhalt',
als ,die Sache selbst' empfindet. Damit gehört man freilich in eine
verkehrte Welt: denn nunmehr wird einem der Inhalt zu etwas bloß
Formalem, — unser Leben eingerechnet«i). Der Bedeutung der »Form«
des näheren nachzugehen, wird Sache einer besonderen ästhetischen
Untersuchung sein.

') Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht III, 4.
 
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