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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0367
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360 ' . BESPRECHUNGEN.

will, nicht übereinstimmt, behaupten zu dürfen glaubt, diese Kunst sei eben nicht
recht gotisch, dann erinnert das doch stark an das Hegel zugeschriebene Wort:
Um so schlimmer für die Natur, wenn sie mit den Begriffen nicht übereinstimmt.
So hat nach ihm Frankreich die schönsten gotischen Bauten geschaffen, aber nicht
die reinsten. »Die romanische Freude an dekorativer Geschlossenheit, an sinnlicher
Klarheit und organischer Harmonie hielt das germanische Bedürfnis nach Über-
treibung, nach Exzessivität zu sehr nieder. So kommt es, daß auch über den
schönsten und reichsten gotischen Bauten Frankreichs doch ein Hauch organisch
abgeklärten Renaissanceempfindens liegt.«

So bliebe also noch ein Unterschied von deutscher und französischer, den
»Romanen« verwandter Kunst, indem wir das Recht nun bestreiten müssen, deutsch
mit gotisch zu identifizieren, nicht bloß aus logischen, sondern auch aus sachlichen
Gründen, da es zur Verkennung der Gotik führt. Aber auch dann widerstrebt es
mir, nun Worringers Charakteristik des gotischen Menschen für das spezifisch
Deutsche zu nehmen, nämlich erhabene Hysterie, gotischen Transzendentalismus,
ungeläuterter und ungeklärter Dualismus, der nur in hysterischen Affektzuständen,
in krampfartigen Steigerungen, in pathetischen Überspannungen, Befriedigung und
Erlösung finden kann, Sinnenberauschung, ungezügelte Aktivität, Rauschsteigerung
bis zur Selbstvernichtung, unklare Rauschsucht, krampfhaftes Verlangen, aufzugehen
in einer übersinnlichen Verzückung, zu einer Pathetik, deren eigentliches Wesen
Maßlosigkeit ist, die nur im Rausch den Ewigkeitsschauer spürt.

O Luther, o Goethe, o Bismarck, o Hindenburg^o Schützengraben!

Bei wem ist denn wohl diese »erhabene Hysterie«? Bei den alten Germanen
oder den modernen Literaten? Ist sie in jenen Linienkritzeleien, die nur als Aus-
lösung eines inneren seelischen Drucks erscheinen, wirft das Aufgeregte, Zuckende,
Fiebernde des nordischen Lineamentes wirklich unzweideutig ein Schlaglicht auf das
unter einem starken Druck stehende Innenleben der nordischen Menschheit, oder
sind es nicht viel mehr solche Thesen und Wortdichtungen, mit denen hier das
Einfachste zu komplizierten Stimmungen emporgeschraubt wird. Wenn nach Wor-
ringer das Kunstgefühl auf Abstraktion und Einfühlung beruht, so ist sicher bei ihm
die Gabe der Einfühlung und Begriffsdichtung stärker als die Abstraktion, die ein
Gemeinsames im Vielfachen zu begrifflicher Klarheit bringt.

Sollen wir damit das ganze Buch ablehnen? Es hat in den vier Jahren, seit-
dem es erschienen ist, starken Erfolg gehabt, es ist zum Rüstzeug einer neuen
Jugend geworden. Und man mag den Erfolg verachten, man kann nicht daran
vorübergehen. Und so schätzen wir das Buch und schätzen das Buch ein: als
Dokument eines neuen stilsuchenden Bewußtseins, als geistige Gefolgschaft einer
neuen Kunstbewegung, der Gotik und primitive Kunst, Linearismus und Flächen-
ornament von neuem Werte bedeuten; aber Werte an sich, ansehnliche, bildhafte
Schöpfungen, ohne den Inhalt, ohne die Gegenstände, denen sie früher zum
Schmuck, zur Form dienten. Natürlich muß, wer ohne Glauben, ohne Kavalier-
haftigkeit vor diesen Kirchen steht, die Dinge anders sehen als ihre Schöpfer,
natürlich kann man in der Scholastik reinste Freude an Begriffskonstruktionen finden,
statt Umdeutung und Rechtfertigung eines Glaubens, und muß es so sehen, wenn
man diesen Glauben nicht hat. Nicht weil diese Formen ohne Inhalt sind, sondern
weil wir heute und diese neue Jugend sie ohne Inhalt sehen, suchen wir nun all
diese Räusche, Ekstasen und Hysterien hineinzudeuten und tun damit nichts anderes,
wie die moderne Kunst mit ihren Linien und Konstruktionen, die nichts darsteilen
und doch möglichst viel ausdrücken sollen. So wie Worringer gotische Gebilde be-
schreibt, sehen die Werke der Expressionisten und Kubisten aus, und als ein Mani-
 
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