VOM SCHAFFEN DES KÜNSTLERS. 399
dö dähte ich an die frouwen min:
diu ist mins herzen künigin.
Sicherlich wird man niemandem verwehren wollen, beim Lesen oder
Hören dieses Liedleins Sommerzauber und Frauenliebe in ihrer Verbin-
dung völlig zu durchleben, aber die Verse schlagen nur den Grundton
an. Die eigentliche Gestaltung fehlt; etwas allzunaiv sind einfach zwei
Tatsachen nebeneinander gestellt: der Dank für den schönen Vogel-
gesang und das dadurch bedingte Erinnern an die Herzenskönigin.
Aber die innere Verknüpfung vermögen wir lediglich zu ahnen, und
das selbständige freie Ausspinnen hat gewiß auch seine Reize, geformt
in der Darstellung ist diese Verknüpfung nicht. Wie der Dichter sie
fühlte, ist dabei gleichgültig; jedenfalls fehlt etwas an der Gestaltung.
Die gefühlswirksame Objektivierung ist nicht vollständig, sondern
brüchig. Nun kann man sagen: es gibt Widerstände des Materials
und seiner Bewältigung. Und diese lassen sich in keiner Weise aus
unserer Grundformel ableiten. Gewiß nicht, und ein derartiger Ver-
such wäre ein ganz krauses Beginnen. Darum gibt es eben ein Ringen
mit dem Material, das einmal den Künstler trägt, und das anderemal
sich ihm entgegenstemmt. An sich wird »der« Künstler schon in
seinem Material erleben, so daß der Gang vom Erleben zu der Organi-
sation von Worten oder Farben einen Weg bedeutet und keinen
Sprung. Und durch die immerwährende Beschäftigung mit dem Material
wird gerade diese Erlebensform erleichtert. Mit Recht haben des-
wegen zahlreiche Kunstforscher Lessings Vermutung abgelehnt, Raffael
hätte auch das größte malerische Genie sein können, »wenn er un-
glücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden«. (Emilia Galotti;
I. Aufzug, 4. Szene.) Und Max Dessoir *) hat in Anknüpfung an eine
Äußerung Hebbels »mit dem Wort: der Maler erobert sich seine Göttin
erst durchs Malen« eine »Grundeigentümlichkeit des höheren geistigen
Lebens« festgestellt: »die Abhängigkeit der Schöpfung von der Äuße-
rung«. Trotzdem ist es wichtig, etwa den verschiedenen Sinn von
»Äußerung« für Forscher und Künstler zu erkennen. Für den Künstler
ist die geglückte »Äußerung« einfach das Kunstwerk; für den Ge-
lehrten aber nicht in gleicher Weise das wissenschaftliche Werk. Es
ist das Behältnis, in dem das von ihm Erkannte ruht, und dieses Er-
kannte kann leicht dem Behältnis entnommen und in andere Zusammen-
hänge eingestellt werden, so wie wir alle das Newtonsche Gravitations-
prinzip kennen ohne die wörtliche Formulierung, die gerade Newton
ihm gab, oder so wie die meisten Nietzschesche Gedanken irgend-
wie verwerten, ohne sie gerade bei Nietzsche nachlesen zu müssen.
J) a. a. O. S. 234.
dö dähte ich an die frouwen min:
diu ist mins herzen künigin.
Sicherlich wird man niemandem verwehren wollen, beim Lesen oder
Hören dieses Liedleins Sommerzauber und Frauenliebe in ihrer Verbin-
dung völlig zu durchleben, aber die Verse schlagen nur den Grundton
an. Die eigentliche Gestaltung fehlt; etwas allzunaiv sind einfach zwei
Tatsachen nebeneinander gestellt: der Dank für den schönen Vogel-
gesang und das dadurch bedingte Erinnern an die Herzenskönigin.
Aber die innere Verknüpfung vermögen wir lediglich zu ahnen, und
das selbständige freie Ausspinnen hat gewiß auch seine Reize, geformt
in der Darstellung ist diese Verknüpfung nicht. Wie der Dichter sie
fühlte, ist dabei gleichgültig; jedenfalls fehlt etwas an der Gestaltung.
Die gefühlswirksame Objektivierung ist nicht vollständig, sondern
brüchig. Nun kann man sagen: es gibt Widerstände des Materials
und seiner Bewältigung. Und diese lassen sich in keiner Weise aus
unserer Grundformel ableiten. Gewiß nicht, und ein derartiger Ver-
such wäre ein ganz krauses Beginnen. Darum gibt es eben ein Ringen
mit dem Material, das einmal den Künstler trägt, und das anderemal
sich ihm entgegenstemmt. An sich wird »der« Künstler schon in
seinem Material erleben, so daß der Gang vom Erleben zu der Organi-
sation von Worten oder Farben einen Weg bedeutet und keinen
Sprung. Und durch die immerwährende Beschäftigung mit dem Material
wird gerade diese Erlebensform erleichtert. Mit Recht haben des-
wegen zahlreiche Kunstforscher Lessings Vermutung abgelehnt, Raffael
hätte auch das größte malerische Genie sein können, »wenn er un-
glücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden«. (Emilia Galotti;
I. Aufzug, 4. Szene.) Und Max Dessoir *) hat in Anknüpfung an eine
Äußerung Hebbels »mit dem Wort: der Maler erobert sich seine Göttin
erst durchs Malen« eine »Grundeigentümlichkeit des höheren geistigen
Lebens« festgestellt: »die Abhängigkeit der Schöpfung von der Äuße-
rung«. Trotzdem ist es wichtig, etwa den verschiedenen Sinn von
»Äußerung« für Forscher und Künstler zu erkennen. Für den Künstler
ist die geglückte »Äußerung« einfach das Kunstwerk; für den Ge-
lehrten aber nicht in gleicher Weise das wissenschaftliche Werk. Es
ist das Behältnis, in dem das von ihm Erkannte ruht, und dieses Er-
kannte kann leicht dem Behältnis entnommen und in andere Zusammen-
hänge eingestellt werden, so wie wir alle das Newtonsche Gravitations-
prinzip kennen ohne die wörtliche Formulierung, die gerade Newton
ihm gab, oder so wie die meisten Nietzschesche Gedanken irgend-
wie verwerten, ohne sie gerade bei Nietzsche nachlesen zu müssen.
J) a. a. O. S. 234.