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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Utitz, Emil: Vom Schaffen des Künstlers
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0414
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VOM SCHAFFEN DES KÜNSTLERS. 407

Schreibung Franz BrentanosJ) scheint mir schon eine rationalistische
Ausdeutung: aber gerade weil diese so zwanglos sich einstellt, weil
der Zusammenhang so leicht geknüpft zu werden vermag, hat die
Tatsache der »wissenschaftlichen« Inspiration lange nicht das Staunen
und die Verwunderung geweckt, gleich der des Künstlers. Und wenn
selbst ein Mann der Tat — vor eine bestimmte Lage gestellt — diese
unter dem Einfluß einer plötzlichen und unpersönlichen Eingebung
durch ein kühnes Handeln durchschneidet, so ist es meistens nicht
allzuschwierig, die Notwendigkeit gerade dieses Entschlusses durch
die konkreten Umstände begreiflich zu machen. Wir können die Ent-
fernung, die jener etwa mit einem einzigen Sprunge durchmaß, Schritt
für Schritt durchmessen. Aber warum fallen dem Künstler gerade
diese Verse ein und jene Farbenakkorde? wie kommt er dazu, das
Leid einer Liebe in die schlichte Folge einiger Töne umzusetzen?
Auch hier wird heute jeder auf die »Vorbereitung« hinweisen, die
schon das ganze Erleben in eine bestimmte Bahn steuert und unter
einer bestimmten Zielsetzung arbeiten läßt. Aber wie sehr wir uns
auch abmühen, es wird weit mühseliger sein, die Zwischenglieder
namhaft zu machen, den Vorgang zu rationalisieren. Wir wollen nun
diese Tatsache nicht einfach hinnehmen und uns dabei beruhigen,
daß der fragliche Gradunterschied der psychologischen Erklärung weiter
keine Hindernisse bereitet, sondern sie im Gegenteil aus dem Wesen
des Künstlers zu erhellen suchen. Wir wissen bereits, daß das auf-
nehmende Erleben des Künstlers »artistisch tingiert« ist, d. h. die
Richtung auf das gefühlswirksame, objektivierte Gestalten hat, natür-
lich nicht jedes aufnehmende Erleben, aber jenes, das in die eigent-
lich künstlerische Sphäre taucht. Darum muß auch keineswegs ein
»Sprung« sein — den Zwischenglieder überbrücken könnten — von
dem aufnehmenden Erlebnis zum Werk; etwa von der Leidenschaft
zu einem leidenschaftlichen Musikstück. Denn jene Leidenschaft ist
schon irgendwie »musikalisch«. Ein Ereignis wird eben in die Ganz-
heit künstlerischer Erlebensweise hereingezogen und dadurch bereits
assimiliert. Warum sind dann aber dabei die Momente des »Plötz-
lichen und Unpersönlichen« so auffallend, sogar subjektiv so betont!
Es wäre doch scheinbar gerade das Gegenteil zu erwarten. Wie Max
Dessoir2) mit tiefem Recht ausführt, unterscheidet sich die künstle-
rische Lebenserfahrung von dem, was gewöhnlich so genannt wird,
dadurch, daß sie kein eigentliches Beobachten ist, »sondern viel un-
willkürlicher, ein instinktives Sehen und Erinnern.« Denn jedes »so-

') Vgl. seinen Vortrag über »Das Genie«, 1892.
s) a. a. O. S. 237 f. und 250 ff.
 
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