Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

DOI Artikel:
Walzel, Oskar: Herbart über dichterische Form
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0443
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
436 °- WALZEL.

Oder sie halten wenigstens die Musik für eine Art Malerei, die Malerei
für Poesie, die Poesie für die höchste Plastik und die Plastik für eine
Art ästhetischer Philosophie. Ihnen empfahl er, dem eigentümlichen
Schönen aller besonderen Arten der Schönheit nachzugehen und die
Landschaft als Landschaft zu sehen, des Konzerts im Konzert froh zu
werden, ebenso wie der Verhältnisse und der Tinten in der Malerei,
endlich der Verflechtung von Situationen, Empfindungen und Cha-
rakteren in der Poesie.

Freilich traute die spekulative Ästhetik den Künstlern und Kennern
nur in der Beurteilung ihrer Einzelgebiete maßgebendes Urteil zu.
Lotze warf ihnen im Jahr 1868 (Geschichte der Ästhetik in Deutsch-
land S. 227) vor, sie verhielten sich etwas dilettantisch, wenn sie zur
Begründung einer allgemeinen Ästhetik übergingen. Er dachte dabei
an die sogenannten einfachsten Formen und Verhältnisse des Mannig-
fachen, die überall, wo sie vorkommen, unmittelbares Wohlgefallen er-
regen. In praktischen Anweisungen, die in jeder einzelnen Kunst der
Meister dem Schüler überliefere, begegne man dem Versuche, diese
Formen und Verhältnisse nachzuweisen. Mit Recht hafteten die Meister
an den Einzelaufgaben, die jede Kunst verschieden von der anderen
stelle. Schritten indes Künstler und Kenner weiter zu dem Wagnis,
ihre Feststellungen zu verallgemeinern, so zeige sich, daß sie von
einem beschränkten Beobachtungsgebiet und von einer Einzelkunst
ausgingen, die sie vorzugsweise übten oder mit Kennerschaft über-
legten; und sie gelangten zu dem Fehler, den Grund aller schönen
Verhältnisse in den besonderen Eigenschaften einiger schönen Ver-
hältnisse zu suchen.

Lotze deutet da auf bekannte Erscheinungen hin und auf methodische
Mißgriffe, denen die Künstler und Kenner sicher mehr ausgesetzt sind
als die theoretische Ästhetik. Doch um so dringendere Pflicht der
Wissenschaft wäre es, mit den Erkenntnissen der Künstler zu arbeiten,
ohne in deren Fehler zu verfallen. Längst ist die Wissenschaft auch
bemüht, diesen Weg zu gehen. An Herbarts Absichten kommt sie
dadurch näher und näher heran.

Mit so bequemer Wendung wie F. Th. Vischer kann die Wissen-
schaft heute vollends die Anschauungen Herbarts und seiner Nach-
folger nicht ablehnen. In den Vorträgen über »Das Schöne und die
Kunst« (2. Aufl. 1898 S. 56 f.) meint Vischer behaupten zu dürfen,
Herbart habe den Satz: »das Schöne ist pure Form* auf die Spitze
getrieben, seine Schule aber in der Ästhetik den reinen Formalismus
aufgestellt. »Das Schöne ist pure Form, reines Verhältnis und sonst
gar nichts. Bedeutung und Ausdruck eines Inneren wirkt dabei nicht
im geringsten mit.« Ganz folgerichtig habe allerdings nur Herbarts
 
Annotationen