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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Walzel, Oskar: Herbart über dichterische Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0461
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454 O. WALZEL.

»Die ganze Betrachtung der Form tritt an die Stelle des unbe-
stimmten Begriffs der Einheit. In größeren Werken ist die Einheit
keine einfache Figur, sondern Figur in Figur. Daß ein Gedanke vor-
handen, der sich zu formen strebe, versteht sich im voraus, ehe von
der Form die Rede ist. Dieser Gedanke enthält schon ein Mannig-
faltiges, sonst könnte er nicht nach Form streben. Soll er nun Form
erlangen, so muß er in Fluß kommen; wenn er auch diesen nicht,
wie Homer, ausspricht, sondern wie Horaz (und Pindar?) großenteils
nur erraten und andernteils anschwellen läßt.«

Diese Betrachtung hätte Herbart vor dem Vorwurf bewahren sollen
(ich erwähne ihn oben), daß er nur die alte Formel von der Einheit
in der Vielheit erneuere. Sie ist freilich noch allgemein genug ge-
halten und läßt das Ziel von Herbarts Formforschung nicht so gut
erkennen wie die vorangehende:

»Hat die Erzählung eine breite Basis, wegen vieler zugleich auf-
tretender Personen, und weiter Verschiedenheit unter ihnen (wie in
W. Scotts Ivanhoe), so ist es desto schwerer, ihr am Ende die rechte
Spitze zu geben. Die Fäden müssen dann um desto fester gehalten
werden, und das Überschüssige muß sich früh allmählich absondern.
Darin ist die Odyssee trefflich angelegt. Wo blieben wohl die vielen
Personen, wenn Odysseus nicht die meisten erzählend einführte? Da-
gegen laufen Erzählungen, die von den Erziehungsjahren des Helden
beginnen, hintennach breit auseinander und beschreiben eine lange
Linie, so daß aus doppeltem Grunde die Zusammenziehung schwerer
fällt.«

Wenn irgendwo so spüre ich an dieser Stelle, daß Herbart der
Formforschung unserer Tage vorgearbeitet hat. Wohl finden sich in
den »Aphorismen« noch verwandte Bemerkungen; aber fast durchaus
führen sie nicht weiter als die Formbeobachtungen Goethes, Schillers
oder der Romantik. Bedauerlich ist dabei, daß Herbart nur wenig
geahnt haben dürfte von solcher klassischer und romantischer Vor-
arbeit. Ich denke ihm nicht unrecht zu tun, wenn ich behaupte, daß
es kaum der Mühe lohnt, den Fortschritt zu prüfen, den Herbart da
gegen die Klassiker und Romantiker bedeutet. Doch sei keinem ver-
wehrt, dieser Frage nachzugehen. Das wäre meines Erachtens noch
immer wertvoller als die Erwägung der Frage, wieweit Herbarts
ästhetischer Formalismus konkret oder abstrakt ist; was hat man sich
den Kopf über diese Frage zerbrochen, ohne vorher die einfachen
und schlichten Feststellungen zu machen, die ich hier vorlege und die
der Frage wohl eine eindeutige Antwort geben!
 
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