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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Panofsky, Erwin: "Das Problem des Stils in der bildenden Kunst"
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0474
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BEMERKUNGEN. ' . 457

Unterarten (Fuge, Oratorium, Sonate, Symphonie usw.) in ihrem Wesen und in ihrer
Entwicklung zu begreifen versuchen wird, so wird auch die Geschichte der bilden-
den Kunst allererst die allgemeinen >darstellerischen Möglichkeiten« der verschie-
denen Stilepochen festzustellen und auf immer klarere und feinere Begriffe zu bringen
haben; sie wird dabei aber nie vergessen dürfen, daß die Kunst, indem sie sich
für die eine dieser Möglichkeiten entscheidet und dadurch auf die anderen ver-
zichtet, sich nicht nur auf eine bestimmte Anschauung der Welt, sondern auf
eine bestimmte Weltanschauung festlegt.

Schluß.

Die Lehre von einer doppelten Wurzel des Stils kann also — wenn wir
zum Schluß unsre Ergebnisse zusammenfassen — nicht wohl aufrecht erhalten
werden. Das individuelle Ausdrucksstreben, das den einzelnen Künstler zu einer
nur ihm eigentümlichen Formgebung und zu einer persönlichen Auffassung oder
Bestimmung des Gegenstandes führt, äußert sich zwar in allgemeinen Formen, aber
diese selbst sind ihrerseits nicht weniger aus einem Ausdrucksstreben hervor-
gegangen: aus einem der ganzen Epoche gewissermaßen immanenten Gestaltungs-
Willen, der in einer grundsätzlich gleichen Verhaltungsweise der Seele, nicht des
Auges, begründet ist. Der Satz, daß die »Optik« des 17. Jahrhunderts eine male-
rische, tiefenmäßige usw. war, klingt zwar, als weise er in dieser »Optik« etwas
nach, woraus hervorgeht, daß das 17. Jahrhundert malerisch und tiefenmäßig dar-
stellen mußte; in Wahrheit aber besagt er nichts weiter, als daß das 17. Jahrhundert
malerisch und tiefenmäßig darstellte: er enthält die Formulierung, nicht die
Begründung der zu untersuchenden Tatsachen. Mit anderen Worten: daß die eine
Epoche linear, die andere malerisch »sieht«, ist nicht Stil-Wurzel oder Stil-Ursache,
sondern ein Stil-Phänomen, das nicht Erklärung ist, sondern der Erklärung be-
darf. Es ist nun gewiß nicht zu leugnen, daß bei so allumfassenden Kultur-
erscheinungen eine wirkliche Erklärung, die in der Aufzeigung einer Kausalität be-
stehen müßte, wohl niemals möglich ist; sie würde eine so tiefe zeitpsychologische
Einsicht, und zugleich eine so große innere Unbeteiligtheit voraussetzen, daß weder
die Herbeiziehung und Ausdeutung kulturgeschichtlicher Parallelen, noch auch die
mit dem Geist der verschiedenen Epochen sich gleichsam identifizierende »Ein-
fühlung« jemals zum Ziele führen dürfte. Allein, wenn die wissenschaftliche Er-
kenntnis deshalb die historischen und psychologischen Ursachen der allgemeinen
künstlerischen Darstellungsformen nicht aufzuzeigen vermag, so müßte es um so
mehr ihre Aufgabe sein, den methistorischen und metapsychologischen Sinn der-
selben zu erforschen, d. h. zu fragen, was es — von den metaphysischen Grund-
bedingungen des Kunstschaffens aus betrachtet — bedeute, daß eine Epoche
linear oder malerisch, flächenhaft oder tiefenhaft darstellt; der Möglichkeit aber,
diese unendlich fruchtbare Frage auch nur zu stellen, würde sich die Kunstbetrach-
tung selbst berauben, wenn sie in den großen darstellerischen Phänomenen, anstatt
sie als die ausdrucksvollen Auswirkungen des Geistes aufzufassen, die sozusagen
naturgesetzlich determinierten und daher in keiner Weise mehr deutbaren Modali-
täten des Sehens erblicken wollte.
 
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