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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0476
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BESPRECHUNGEN. 469

auch eine objektive Nötigung gegenüberstehen, trotz aller Auffassungen auch das
Bild irgendwie zu Worte kommen, denn wir trennen ja die subjektivere von der
objektiveren Auffassung. Es handelt sich also darum, ein Kriterium dieser
Objektivität zu finden. Als dieses Kriterium kommt für den Verfasser nur »die
Übereinstimmung der Mehrzahl aller Beobachter in Betracht«. Dies wird damit
begründet, daß diejenigen Linienzüge im Aufbau einer Komposition, für die sich
das allgemeine Urteil entscheidet, zweifellos die sind, die sich der Beobachtung
vor allem aufdrängen. Bei der Auffassung der Orundzüge einer Komposition
handelt es sich um einen Auffassungsakt relativ elementarer Natur, der nicht not-
wendig den Charakter eines ästhetischen Erlebens tragen muß. Die Vertikalität
einer räumlichen Gestalt haftet ihr ähnlich wie ihre Farbe an, nur verständigen wir
uns leichter über Farben als über Richtungen. Schließlich entscheidet aber hier
wie dort die Auffassungsweise der Mehrheit, »der wir Rechnung zu tragen pflegen,
wenn wir von den Eigenschaften der Dinge reden«. —

Prandtls sorgfältige Arbeit besitzt zweifellos ein gewisses Verdienst. Ihr
Mangel liegt in einer ungenügenden methodischen Besinnung. Der Verfasser ist
sich über die doppelte Bedeutung, die der Begriff der Objektivität annehmen kann,
nicht klar. Objektivität kann in der Tat als Übereinstimmung mit dem Urteil der
Mehrheit definiert werden, sie bedeutet dann soviel wie Allgemeingültigeit und
kann somit durch eine experimentelle Untersuchung festgestellt werden. Was die
meisten sehen, das ist eben. Die Auffassung ist objektiv, die in den meisten Zügen
mit der Auffassung anderer übereinstimmt. Aber Objektivität kann doch auch
Übereinstimmung mit dem Gegenstand bedeuten. Der Einwand von psycho-
logischer Seite wird sein: aber wie kennen wir denn den Gegenstand als in irgend
einer Auffassung? Ist es da nicht sicherer, sich auf eine schematische, durch-
schnittliche Auffassung zu verlassen, als auf irgend eine individuelle, ja führt nicht
überhaupt der einzige Weg zum Objekt durch die Auffassung der Subjekte? Der
Irrtum, der Prandtls Arbeit zugrunde liegt, ist typisch; wäre seine Anschauung
richtig, so könnte die Kunstwissenschaft von nun an nur noch experimentell be-
trieben werden, die Bestrebungen, denen auch diese Zeitschrift dient, wären als
ein Irrtum erwiesen. Es kommt nun darauf an, ob sich der Begriff einer Objek-
tivität, deren Kriterium nicht die allgemeine Übereinstimmung, sondern die Er-
kenntnis des Gegenstandes ist, rechtfertigen läßt.

Prandtl selbst gibt zu, daß gewisse objektive Nötigungen, so und nicht anders
aufzufassen, in jeder Komposition liegen. Sein Vorurteil ist, um diese für die Auf-
fassung herrschenden Züge festzustellen, bedürfe es unter allen Umständen den
Umweg über eine große Zahl von Beurteilern. Liegen aber wirklich schon im
Objekte gewisse Forderungen, dann wird ein Auge, das gelernt hat zu sehen, diesen
Forderungen auch nachkommen. Mögen die wirklich gefällten Urteile dann auch
ziemlich weit auseinandergehen — die eine Auffassung ist trotzdem richtiger als
die andere. In der Schule von Athen sind eben gewisse Linien vorherrschend;
es mag im Einzelnen Zwistigkeiten geben, ob diese Linie noch aufgenommen
werden soll oder nicht, oder über den Verlauf einzelner Kurven — das Grundgerüst
der Komposition wird jedenfalls immer, auch ohne experimentelle Untersuchung,
einwandfrei festgestellt werden können. Sollten sich Diskrepanzen ergeben, so ist
doch immerhin eine Diskussion über die richtige Auffassung möglich. Dabei
wird dann auch der Historiker, der die Auffassungsweise eines bestimmten
Künstlers oder eines bestimmten Jahrzehnts genau kennt, ein entscheidendes Wort
mitzusprechen haben. Der Verfasser gibt zwei verschiedene Kompositionschemata
der Schule von Athen wieder, die er nach Beschreibungen hergestellt hat. Dabei
 
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