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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Feldkeller, Paul: Der Anteil des Denkens am musikalischen Kunstgenuß, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0279
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272 PAUL FELDKELLER.

Solche allgemeinen komplexen Gestaltqualitäten auf dem Gebiete
des Gesichtssinnes sind zahllos, sie sind ein Haupthilfsmittel schneller
örtlicher Orientierung. Und ganz den gleichen unaustilgbaren und
hochbedeutsamen Einfluß des Denkens und Wissens finden wir nun
auf dem akustischen Sinnesgebiet wieder. Niemand wird die Gestalt-
qualität von »Paule« (Vokativ von »Paulus«) mit der von »Paule«
(Vokativ der Berliner Gaunersprache von »Paul«) verwechseln, ob-
wohl die optischen wie akustischen Komponenten der »apperzeptiven«
Synthese des Sprachbildes in beiden Fällen die gleichen sind. Es
muß mithin noch eine andere nichtsinnliche Komponente hinzukommen,
um das Resultat zu erklären. Der »assoziative Faktor« braucht also
nicht einem Sinnesgebiet anzugehören. Aus solchen Beispielen ersieht
man klar, daß in dem »Verschmelzungs«-prozeß, dem die komplexen
Gestaltqualitäten ihr Dasein verdanken, psychische Antezedentien
(sinnliche Bilder, Gedanken), und nicht bloß physische, wie z.B.
beim Farbenkreisel, verarbeitet werden; denn die genannten Ante-
zedentien sind einzeln als Bewußtseinstatsachen aufweisbar.

Wie diese auffallende Tatsache, daß abstraktes Wissen einen solch
entscheidenden Einfluß auf die Gestaltqualität ausübt, sich erklären
mag, fällt für unsere Untersuchung wenig ins Gewicht. Wir haben
zwei Möglichkeiten der Erklärung. Entweder verursacht das abstrakte
Denken unmittelbar selbst diese Veränderung der Gestaltqualität, oder
es bewirkt diese nur durch Vermittlung einer assoziierten sinnlichen
Vorstellung. Nun ist es sicher, daß solche Vermittlung durch eine
Assoziation häufig genug eine zweifellose Rolle spielt. Es führt z. B.
das Anhören eines musikalischen Leitmotives die abstrakte Erinnerung
an einen früher im Zusammenhang mit demselben Motiv ausgesproche-
nen Gedanken oder an eine Szene, in der das Motiv erstmalig er-
tönte, mit sich, und diese Erinnerung wieder das betreffende sinnliche
Szenenbild, welches nun erst die Gestaltqualität des Leitmotives be-
einflußt. Aber anderseits dürfte es dennoch Reflexionen geben, die
ohne solche Inanspruchnahme einer vermittelnden Vorstellung einen
derartigen Einfluß ausüben. Stehe ich bei untergehender Sonne auf
freiem Felde, abstrahiere von der ganz unanschaulichen Tatsache der
Himmelsrichtung und fälle mit suggestiver Wirkung das abstrakte
Urteil, es sei früher Morgen und Sonnenaufgang, so nimmt die Land-
schaft den entsprechenden gestaltqualitativen Charakter des Morgens
an. Am Sonn- und Feiertag sieht die Welt bekanntlich »anders« aus
als sonst, auch wenn die plumpen äußerlichen Vorstellungen absolut
dieselben bleiben, und wir können auch hier bei für Werk- und Feier-
tage der Erfahrung nach in gleicher Weise möglichen Vorstellungen
nach Belieben und Willkür die Gestaltqualitäten des Werktags wie
 
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