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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Utitz, Emil: Vom Schaffen des Künstlers
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0408
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VOM SCHAFFEN DES KÜNSTLERS. 401

wieder mit aller Energie sich für die Rückführung des Kunstwerkes
auf den Künstler aussprechen. Dies tat z. B. R. M. Meyer im Kampfe
gegen Dessoir, und Petersen im Gegensatz zu Simmel. Julius Peter-
sen J) wendet sich gegen Simmeis Bemerkung: »Es ist ein Irrtum
ersten Ranges, zu meinen, daß nur das geringste für das Verständnis
einer dichterischen Gestalt damit gewonnen wäre, wenn man ihr Modell
aufzeigt.« Diese Behauptung »hält schwer stand gegenüber einer Ge-
stalt wie Euphorion, die auch im Faustkommentar des Sinnhubers
durch den Hinweis auf Byron erklärt werden muß. Aber erst eine
Ergründung der ganzen Bedeutung, die diese literarische Erscheinung
in Goethes Leben gewonnen hat, und die Aufdeckung des inneren
Verhältnisses Goethes zu Byron kann die Gestalt wirklich erklären.«
»Je besser es ... gelingt, das Kunstwerk als einen bis ins letzte mit
Notwendigkeit bedingten einheitlichen Organismus und organischen
Ausdruck der künstlerischen Persönlichkeit emporwachsen zu lassen,
desto höher steigt die ästhetische Einschätzung. Je weniger die innere
Notwendigkeit des Entstehungsprozesses dem Nachschaffenden aufgeht,
desto mehr fällt das Übergewicht auf die Seite des beobachtenden Kri-
tikers.« Auch für uns stellt sich die Form des Kunstwerks bis in ihre
feinsten Ausslrahlungen als Ausdruck des künstlerischen Schaffens-
prozesses dar, wie er sich gerade in diesem Material auswirkt, aber
trotzdem müssen wir Petersens Schlußfolgerungen unbedingt ablehnen.
Man kann z. B. eine politische Tat als gut oder schlecht erkennen,
ohne sie als organischen Ausfluß einer bestimmten Persönlichkeit auf-
zufassen, ja sie wird dadurch weder besser noch schlechter, ob sie
einen derartig organischen Ausfluß darstellt oder nicht. Den Einwand
— mit dieser Betrachtungsweise stelle man sich auf die Seite des
Kritikers — darf man hier nicht erheben; denn es kann gleich ent-
gegengehalten werden, daß es sich Petersen lediglich um ein geneti-
sches Verstehen des Kunstwerks handelt und weit weniger um dieses
selbst. Euphorion genetisch »wirklich erklären« kann man nur auf
dem von Petersen gezeigten Wege, aber zum künstlerischen Auf-
nehmen genügt das Erfassen der Bedeutung Euphorions im Kunst-
werk und der eventuell in diesem liegende Hinweis auf Byron.
Petersen sieht lediglich eine einzige Erklärungsmöglichkeit: die gene-
tische, und bemerkt gar nicht — und das ist nur aus dem Entwick-
lungsgang der Philologie zu begreifen —, daß das Kunstwerk als die
und die in sich geschlossene Organisation erklärt werden kann, daß
es sein ganzes Licht aus seinem eigenen Zentrum heraus erzeugt und
nicht gleich dem Mond von der Sonne her leiht. Kunst ist doch

') Literaturgeschichte als Wissenschaft, S. 35 ff.

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. X 26
 
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