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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Waetzoldt, Wilhelm: Die Begründung der deutschen Kunstwissenschaft durch Christ und Winckelmann
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0187
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D. BEGRÜNDUNG D. KUNSTWISSENSCH. DURCH CHRIST U. WINCKELMANN. 183

Malerei vor seinen Richterstuhl, um ihre Leistungen, ihre Entwicklungs-
stadien, Ursprung, Fortgang, Wachstum, mit der antiken Kunst zu ver-
gleichen. Daß die Entwicklung der neueren Malerei ein Spiegelbild
der antiken Kunst sei, war ein Stück der großen von Vasari bis
Bellori gültigen Geschichtskonstruktion. Winckelmann nahm den Ge-
danken auf — auch darin ein Erbe italienischer Historiographien. Da
aber Winckelmanns Kenntnisse sehr beschränkt waren und er sich
auf römische Handzeichnungsammlungen angewiesen sah, um sich
einen Überblick über den Verlauf der neueren Kunst zu verschaffen,
sind auch die Ergebnisse fragwürdig und in Bruchstücke zerfallend.
Das Ziel kennt Winckelmann schon, ehe er die Untersuchung be-
ginnt, es ist: der »deutliche Begriff von dem Wege zur Vollkommen-
heit unter den Alten«. Aus seinen Parallelen zwischen alten und
neuen Entwicklungsstufen einige Beispiele: Die Zeichnung des Mittel-
alters war einfach und ideal, wie die ägyptische, alt-etrurische, alt-
hellenische. Die Wiederbelebung der Kunst unter Julius IL und Leo X.
gleicht ihrer Erhebung unter Perikles. In Raphael, dessen bisher noch
von niemand erkannte Vorzüglichkeit ins rechte Licht gesetzt zu haben,
Winckelmann für einen Hauptvorzug seiner »Gedanken« hielt, in Ra-
phaels Kunst wird die Antike neu geboren. Das war ja einer der
Trümpfe, den die mit Belloris Beschreibung der vatikanischen Stanzen
aufgekommene Raphaelverehrung gegen die Michelangelo-Apotheose
Vasaris ausgespielt hatte. Der unabgesetzte Federstrich Raphaelischer
Handzeichnungen gleicht den Figuren kampanischer Gefäße. Leonardo
und Andrea del Sarto arbeiten wie die antiken Künstler, voller Unschuld
und Grazie. Die Grazie Leonardos verhält sich zu der Correggios
wie Praxiteles zu Apelles, aber es fehlen die hohen Ideen. Einzig zu
Michelangelo gibt es keine Analogie in der griechischen Kunst; denn
der Vergleich seiner Zeichnung mit dem archaischen Stil wird kaum
von Winckelmann selbst als überzeugend betrachtet worden sein.
Winckelmann wußte mit dem Genie, ja schon mit dem eigenwilligen
Original, nichts anzufangen. Das Genie als seelischer Sonderwert war
für Winckelmann ebensowenig entdeckt, wie für Sandrart. Rembrandt
und Michelangelo, ja auch Dürer und Leonardo fügen sich nicht in
Winckelmanns Kreise, und Rubens läßt er nur passieren als den
»genialen Dichter des Pinsels«. Als die Raphaelsche Schule, welche
nur wie eine Morgenröte hervorkam, aufhörte, »verließen die Künstler
das Altertum und gingen, wie vorher geschehen war, ihrem eigenen
Dünkel nach«. Durch die beiden Zuccari hob das Verderbnis an,
das dauerte, bis den Eclectici der bolognesischen Schule die Augen
wieder aufgingen und sie nun die Reinheit der Alten und Raphaels
mit dem Wissen des Michelangelo, dem Reichtum der venezianischen
 
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