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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Adama van Scheltema, Frederik: Beiträge zur Lehre vom Ornament
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0427
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BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 423

frühe Kunst wieder den selbständigen geistigen Charakter, der sie für
die kunstwissenschaftliche Behandlung geeignet macht. Ich habe, an-
knüpfend an die Korbflecht- und Kürbistheorie, nur die bekanntesten
Deutungen berücksichtigt, weil mir die Methode der Bekämpfung
und, daran anschließend, die Darlegung der eigenen kunstwissenschaft-
lichen Betrachtungsweise wichtiger schien als die Widerlegung cTer
vielen einzelnen hier in Betracht kommenden Deutungsversuche, mögen
diese nun an Korbgeflechte oder Kürbisse, Stickerei oder Selbstbemalung
oder auch an die zufällige Verschiebung textiler Muster (zur Erklärung
der Spiralvoluten- und Mäanderformen) anknüpfen. Ganz abgesehen
von der Tatsache, daß es keinen Sinn hat, bei der Erklärung von
Kunstformen das geistige Moment auszuschalten und sie damit als
etwas anderes denn als Kunstformen hinzustellen, war es möglich, die
technisch-materialistische Richtung auf ihrem eigenen Gebiete anzu-
greifen, durch den Nachweis, daß die Schlußfolgerungen, zu denen sie
nötigt, Schlag auf Schlag den Tatsachen widersprechen. In den fol-
genden Ausführungen soll nun versucht werden, die Entwicklung der
prähistorischen nordischen Kunst bis zum Eintritt des Mittelalters in
kurzen Zügen darzulegen und damit eine Grundlage zu schaffen für
das noch immer nicht geschriebene erste Kapitel der nordeuropäischen
Kunstgeschichte.

Bei der Erklärung des geradlinigen neolithischen Ornaments wurde
schon kurz auf die Entwicklungstendenzen dieser frühesten Kunst hin-
gewiesen. Grundlage für das Ornament der Steinzeit war ein hori-
zontal-vertikales System von geraden Linien als der symbolische Aus-
druck der in den wagrechten und senkrechten Querschnitten beschlos-
senen Struktur des Gefäßes. Dabei wurden bestimmte Stellen bevor^
zugt: der Rand, der Halsansatz, die größte Ausweitung des Bauches
(Abbildung 1). Es sind Stellen, die, weil von hervorragend tektonischer
Bedeutung, den größten Anreiz zu dieser rein formalen Deutung
auslösten. Das Wachstum ist nun in erster Linie ein quantitatives:
eine Ausbreitung des Kristallisationsprozesses auch über Teile, wo ein
solcher starker Anreiz nicht durch die Form des Trägers gegeben war.
Ein Beispiel liefern unter anderem die ungegliederten Megalithschüsseln
mit schräg aufsteigender Wandung, die nun trotzdem in Zonen ein-
geteilt und ganz mit senkrechten Rippen und wagrechten Strichen
überdeckt wird. Das geradlinige Ornament hält sich nicht mehr krampf-
haft an bestimmten, stark dazu einladenden Stellen, es wird unab-
hängiger vom Träger — dient nicht mehr, sondern begleitet (Ab-
bildung 2). Diese Emanzipation gegenüber dem Träger führt dann zu
der dritten Phase der geradlinigen Ornamentik: diese hat ein eigenes
Leben unabhängig von ihren ursprünglichen Daseins- und Entstehungs-
 
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