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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0361
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BESPRECHUNGEN.

halb der Dur- und Moll-Reihe seien weitgehende Charakterunterschiede der Ton-
arten vorhanden. Viel Phantastisches ist in der Ausdeutung dieser Charaktere zu
Tage gefördert worden, vieles, was den objektiven Kritiker stutzig und mißtrauisch
gegen das ganze Thema machen muß. Anderseits ist aber auch so viel ernst zu
nehmendes Tatsachenmaterial gesammelt und erörtert worden, daß man sehr un-
wissenschaftlich und oberflächlich handeln würde, wenn man, voreingenommen, das
ganze Problem als »Unsinn« und Einbildung hinstellen wollte, wie es hier und da
geschieht.

Stephani behandelt die vier Erklärungsversuche, die bisher für die verschiedenen
Charaktere der Tonarten aufgestellt worden sind: 1. die Deutung durch Konvention,
indem eine Tonart durch irgend ein besonders bedeutendes Tonstück, das in ihr ver-
faßt ist (Pastorale, C-Moll-Sinfonie, Meistersinger-Ouvertüre, Lohengrin-Vorspiel usw.)
in ihrem Charakter gewissermaßen ein für alle Male abgestempelt erscheint; 2. die
Deutung durch physikalische Eigenheiten der Tonbildung auf einzelnen Instru-
menten, wie leere Saiten der Violinen, Naturtöne der Blechinstrumente, verschiede-
ner Anschlag der schwarzen und weißen Tasten des Klaviers usw.; 3. die Deutung
durch physiologische Eigenheiten des Gehörs, wie Eigentöne des menschlichen
Ohrs, die gewisse Obertöne besonders scharf hervortreten lassen, worauf schon
Helmholtz aufmerksam gemacht hat; 4. die Deutung durch psychologische Beob-
achtungen und Erkenntnisse, indem z. B. die ^-Steigerungen die Tonarten in der
Vorstellung heller, heiterer und lebhafter, die ^-Erniedrigungen sie dunkler, ernster
und weicher erscheinen lassen.

Stephani sucht dann mit sehr großer und sympathischer Gründlichkeit ein
System einer Charakteristik der Tonarten aufzustellen. Er glaubt, daß in ein-
zelnen Fällen alle vier Erklärungsversuche in Betracht kommen können, ist aber
geneigt, dem rein seelischen Moment, also der vierten Möglichkeit, die weitaus
größte Wichtigkeit zuzusprechen.

Persönlich möchte ich auf Grund einer fast dreißigjährigen, nahezu unausge-
setzten Beschäftigung mit dem Gegenstand glauben, daß auch Stephanis im übrigen
vortreffliche Studie das schwierige Thema noch keineswegs restlos spruchreif macht.
Es bleibt ein ungeklärter Rest, für den eine befriedigende Deutung bislang weder
mit Stephanis Hypothese noch überhaupt möglich ist und der doch von ausschlag-
gebender Wichtigkeit zu sein scheint. Ich habe seinerzeit in dieser Zeitschrift dar-
gelegt, wie ich, ohne mit absolutem Tonbewußtsein begabt zu sein, gewisse Moll-
tonarten lediglich an ihrem ganz speziellen, mir selbst aufs genaueste bewußten,
aber unendlich schwer zu definierenden Charakter zuweilen blitzartig beim Hören
nur eines Akkordes, zuweilen erst nach längerer, sorgfältiger Prüfung mit denkbar
größter Bestimmtheit erkenne. Absolutes Tonbewußtsein kann dabei unmöglich im
Spiel sein, denn wenn der C- oder D- oder G- oder H-, E-, Fis-, Es-moll-Dreiklang,
dessen spezifische Eigenart ich, unabhängig von den jeweilig erzeugenden Instru-
menten oder Stimmen, mit größter Sicherheit beim Hören (ohne Kenntnis der Vor-
zeichen) empfinde, in Dur erklingt, so versagt meine Fähigkeit, die Tonart zu be-
zeichnen, restlos. In den 30 Jahren meiner Beobachtungen habe ich, glaube ich, noch
keine 10 Fälle einer richtigen Erkennung von Dur-Tonarten erlebt (und dann auch
nur bei Klavierstücken mit einer schwarzen Taste als Grundton des Dreiklangs
[Deutung Nr. 2?]), dagegen ungezählte Hunderte, vielleicht Tausende von Fällen
einer richtigen Erkennung von Moll-Tonarten. Und doch gibt es auch hier wieder
Unterschiede: F-moll, Cis-moll, Gis-moll habe ich nur ganz vereinzelt oder nie,
andere Tonarten dafür um so verläßlicher erkannt. Stets empfinde ich den Charakter
am deutlichsten bei einem kräftig erklingenden Quart-Sext-Akkord oder überhaupt
 
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