Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0362
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BESPRECHUNGEN.

349

bei einem Akkord über der Dominante als Grundton. Am leichtesten wird mir das
richtige Erkennen von D-moll. Von einer Mitwirkung eines (unbewußten?) abso-
luten Gehörs kann dabei um so weniger die Rede sein, als ich trotz der hohen
Sicherheit in der richtigen Deutung dieses Moll-Akkords dem zugehörigen Dur-
Akkord ganz hilflos gegenüberstehe; D-dur habe ich in meinem ganzen Leben auch
nicht ein einziges Mal richtig erkannt! Seltsamerweise scheint meine ohnehin nur
fragmentarische Fähigkeit, Tonarten an ihrem Klangcharakter richtig zu erkennen,
auch gar keiner rechten Entwicklung fähig zu sein. C-, D-, Es-, E-, Fis-moll habe
ich vor 30 Jahren, als ich mit diesen Selbstbeobachtungen begann, bereits ungefähr
ebenso sicher, wie gegenwärtig, erfaßt, unabhängig vom Tempo und gleichviel ob
der Klang vom Klavier, von einem Streichquartett, vom Orchester, von einer Orgel,
von einem a capella-Chor oder sonstwoher stammte; ja, selbst an Stimmgabeln,
Dampfersirenen, Bahnsignalglocken usw. habe ich Dreiklänge, wenn die genannten
Mollakkorde dadurch gebildet wurden, gelegentlich an ihrem Sondercharakter richtig
gedeutet. Nur bei A-moll, das ich ursprünglich nicht erkannte, ist im Laufe der
Jahrzehnte eine leichte, bei H- und besonders G-moll, die mir ursprünglich in ihrer
Eigenart auch nicht deutlich waren, eine starke Besserung in der Sicherheit des
Erkennens eingetreten; G-moll ist heut sogar wohl nächst D-moll die Tonart, bei
der mir am seltensten die ohnehin nur vereinzelt vorkommenden Fehler in der Deu-
tung des Klanges unterlaufen. Als die in jeder Hinsicht »edelsten« Tonartenklänge
erscheinen mir C-, D- und E-moll. Allein das D-moll verbindet aber mit dem Adel
des Klanges eine Wucht und Größe des Ausdrucks, wie ich sie sonst nur noch
dem unheimlich düstren (und nicht ebenso edeln) Es-moll zusprechen möchte. C-
und E-moll sind edel und weich.

Wie will nun Stephani derartige durch ungezählte Hunderte von Beobachtungen
gesicherte Tatsachen mit seiner Theorie erklären? Mir scheint dies völlig unmög-
lich zu sein. Nach meinem Dafürhalten kommen alle vier oben aufgeführten Deu-
tungsversuche eines Charakters der Tonarten in Betracht, und doch lösen alle zu-
sammen das Problem noch nicht erschöpfend. — Die Deutung durch Konvention
scheint eine gar nicht geringe Rolle zu spielen, die einmal einer Sonderuntersuchung
zugänglich gemacht werden sollte. Warum werden etwa seit Mendelssohns Sommer-
nachtstraum-Ouvertüre fast alle Elfentänze in E-moll, seit Beethovens Eroica alle
Trauermärsche auf gefallene Helden in C-moll komponiert? Die physikalischen
Eigenheiten der Tonbildung auf einzelnen Instrumenten haben in älterer Zeit eine
größere Bedeutung für die konventionelle Bewertung der Tonarten gehabt als heute;
die fast ausnahmslose Verwendung des D-dur für jubelnde und strahlende Orchester-
werke, der wir ehedem (z. B. Händel, Haydn, aber auch u. a. noch Spontini in
fast allen seinen Ouvertüren) allgemein begegnen, beruht ja auf der früher bevor-
zugten Stimmung der Trompeten, die für solche Orchesterwerke erforderlich waren.
Daß ferner physiologische Eigenheiten des Gehörs, die ich selbst 1897 in meinem
Buch »Die Charakteristik der Tonarten« als hauptsächlichste Erklärung herangezogen
wissen wollte, für viele Deutungen durchaus unerläßlich sind, geht ja überzeugend
hervor aus dem verschiedenartigen Verhalten mancher Tiere (Elefanten, Hunde)
gegen wechselnde Tonarten, worauf ich schon hinwies und auch Stephani jetzt
wieder aufmerksam macht. Hier scheidet jede Deutung durch psychologische Fak-
toren natürlich aus, und man kann ohne die physiologische Hypothese überhaupt
nicht auskommen. Nun, und die 4., rein psychologische Deutung ist ja durch Stephanis
Buch durchaus ins rechte Licht gerückt worden.

In der Tat ist das ganze, enorm schwierige Problem unmöglich auf eine einzige
Formel zu bringen. Noch mancher Forscher wird sich an dieser Nuß die Zähne
 
Annotationen