V.
Marees' „Entführung des Ganymed".
Versuch einer ästhetischen Analyse.
Von
Eduard Ortner.
I.
Was man unter einer Ȋsthetischen Analyse< zu verstehen hat,
scheint keiner besonderen Erörterung zu bedürfen. Aus Kunstgeschichte
und Kunstkritik ist uns ja dieser Ausdruck so wohl vertraut, daß wir
auch seinen begrifflichen Gehalt als einen festen und gesicherten zu
besitzen glauben. Sehen wir jedoch näher zu, machen wir etwa gar
den Versuch, eine Definition des Begriffes zu geben, so zeigt sich bald,
daß unser Glaube ein irriger war und das scheinbar ganz Bekannte
noch eine Fülle von Unklarheiten in sich birgt.
Schon die Frage nach dem Gegenstand der ästhetischen Analyse
wirft Schwierigkeiten auf. Wenn man fürs erste auch feststellen darf,
daß dieser Gegenstand nicht in irgendwelchen allgemeinen Momenten
und Charakteren des ästhetischen Wertes gefunden werden kann, son-
dern einzig und allein in dessen besonderen individuellen For-
men, so ist es doch zweifelhaft, ob das Individuelle in einem bestimm-
ten ästhetisch wirksamen Objekt der Kunst, beziehungsweise Natur,
oder in dem ästhetischen Einzelerlebnis eines bestimmten Subjekts
gesucht werden soll. Es ist der alte Gegensatz von Objektivismus und
Subjektivismus, der hier an einem speziellen Fall der Individuaiästhetik
mit aller Schärfe wieder hervortritt, und obgleich man heute im all-
gemeinen die ästhetische Einstellung des Subjekts in den Vordergrund
rückt und man kaum geneigt sein dürfte, einem naiven Objektivismus,
der die Prädikate »schön und »häßlich« den Dingen als solchen wie
irgendwelche andere Eigenschaften zuerkennt, das Wort zu reden, so
scheint doch die Praxis der ästhetischen Analyse, wie sie tatsächlich
von Kunstgeschichte und Kunstkritik geübt wird, sich ganz unmittelbar
an das ästhetische Objekt, das Kunstwerk, zu wenden.
Es ist hier nicht der Ort, zu diesem Gegensatz der Prinzipien ent-
sprechend Stellung zu nehmen und eine Lösung zu suchen, welche
meines Erachtens nicht ohne Aufrollung der ganzen metaphysischen
Marees' „Entführung des Ganymed".
Versuch einer ästhetischen Analyse.
Von
Eduard Ortner.
I.
Was man unter einer Ȋsthetischen Analyse< zu verstehen hat,
scheint keiner besonderen Erörterung zu bedürfen. Aus Kunstgeschichte
und Kunstkritik ist uns ja dieser Ausdruck so wohl vertraut, daß wir
auch seinen begrifflichen Gehalt als einen festen und gesicherten zu
besitzen glauben. Sehen wir jedoch näher zu, machen wir etwa gar
den Versuch, eine Definition des Begriffes zu geben, so zeigt sich bald,
daß unser Glaube ein irriger war und das scheinbar ganz Bekannte
noch eine Fülle von Unklarheiten in sich birgt.
Schon die Frage nach dem Gegenstand der ästhetischen Analyse
wirft Schwierigkeiten auf. Wenn man fürs erste auch feststellen darf,
daß dieser Gegenstand nicht in irgendwelchen allgemeinen Momenten
und Charakteren des ästhetischen Wertes gefunden werden kann, son-
dern einzig und allein in dessen besonderen individuellen For-
men, so ist es doch zweifelhaft, ob das Individuelle in einem bestimm-
ten ästhetisch wirksamen Objekt der Kunst, beziehungsweise Natur,
oder in dem ästhetischen Einzelerlebnis eines bestimmten Subjekts
gesucht werden soll. Es ist der alte Gegensatz von Objektivismus und
Subjektivismus, der hier an einem speziellen Fall der Individuaiästhetik
mit aller Schärfe wieder hervortritt, und obgleich man heute im all-
gemeinen die ästhetische Einstellung des Subjekts in den Vordergrund
rückt und man kaum geneigt sein dürfte, einem naiven Objektivismus,
der die Prädikate »schön und »häßlich« den Dingen als solchen wie
irgendwelche andere Eigenschaften zuerkennt, das Wort zu reden, so
scheint doch die Praxis der ästhetischen Analyse, wie sie tatsächlich
von Kunstgeschichte und Kunstkritik geübt wird, sich ganz unmittelbar
an das ästhetische Objekt, das Kunstwerk, zu wenden.
Es ist hier nicht der Ort, zu diesem Gegensatz der Prinzipien ent-
sprechend Stellung zu nehmen und eine Lösung zu suchen, welche
meines Erachtens nicht ohne Aufrollung der ganzen metaphysischen