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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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Sternberger, Dolf: Gedanken über die zeitgenössische Baukunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0283
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BEMERKUNGEN. 269

historischen Einstellung verschlossen bleibt. Das Wort enthält eine prinzipielle Un-
abgeschlossenheit, Offenheit, Oeöffnetheit in einen Horizont von Möglichkeiten hin-
ein, das ist in Zukunft.

Diese Bemerkungen unternehmen es, die von der historischen verweilenden Be-
trachtung spezifisch unterschiedene Methode der interpretierenden Umschau in der
Situation anzuwenden, — der Interpretation, die nicht als zweiter Zugriff „hinter"
das schon beschriebene Objekt zu kommen sucht, sondern die das Medium ist, in
dem wir von Anfang an das Zeitgenössische sehen, das niemals fertiges Objekt ist,
sondern immer schon durchdrungen, irgendwie verstanden, aufgelöst und hinweisend
auf den Horizont der Möglichkeiten.

Es ist das Augenfälligste am neuen Bauen, daß dem Gebiete nach sein ganzes
Gewicht im Verkehrs-, Industrie- und Wohnbau liegt, und daß von da aus allein
die Versuche einer Gesamt-Durchdenkung und Durchformung der Stadt unternom-
men werden, daß hingegen diese Sicherheit fast gänzlich fehlt gegenüber bislang
zentralen Bauaufgaben wie Theater und Kirche. Also: Die Bautätigkeit zielt in
großem Maßstabe auf die Gestaltung der Räume des Arbeitens und Wohnens, auf
die Erfassung der Alltäglichkeit unseres Daseins, nur peripher hingegen auf Räume
der Feier, der Vergnügung (des Genießens) und der Repräsentation. Dies schon
ist von ungeheurer Bedeutung, was der Versuch einer soziologischen Analyse zur
Anschauung bringen soll. Den gemäßesten Ansatzpunkt dazu bietet der Wohnbau,
in dem sich die Umwälzung am schlagendsten dokumentiert.

Im Mittelpunkt der Arbeit an der neuen Wohnung stehen die Gedanken des
Baus erstens von großen Siedlungskomplexen und zweitens von Mietshausblocks,
diese zwar in der zuerst in Holland gefundenen Gestalt, die sich durch die völlig
gleichförmige Durcharbeitung ihrer Elemente, der Wohnungen und Zugänge, und
durch die Anlage des Ganzen um einen großen gemeinsamen Hof auszeichnet. Auch
diese Idee des Blockes, der etwas ganz anderes ist als die Anhäufung einer mög-
lichst großen Zahl von Wohnungen auf einem gegebenen Grundstück mit Fassaden
nach außen, läßt sich so als eine spezifisch zeitgenössische ansehen. Diese beiden
großen Ideen, die Reihung von Kleinwohnungen in Siedlungen und der Wohnblock
als zentrale Ideen der zeitgenössischen Architektur, machen, wie mir scheint, mehr
als irgend etwas anderes im Bereich unserer Umschau diejenige soziale Struktur
sichtbar, die wir Masse nennen.

Ebensowenig wie es nun angeht, dies noch ganz unbestimmte Ergebnis voreilig
auf das Konto eines abstrakten Kollektivismus zu schieben, der sich rein reaktiv
gegen den ebenso abstrakten Individualismus des IQ. Jahrhunderts stelle, ebenso-
wenig ist es allerdings möglich, in ihm das Produkt der Aktivierung einer bestimm-
ten Schicht oder Klasse als solcher zu sehen. Mag auch faktisch das Proletariat
oft das Hauptkontingent der Wohner und Siedler stellen, so kommen wir doch mit
dieser Tatsache der Masse als Struktur nicht näher. Diese Masse ist nicht Klasse,
sie ist aber auch nicht etwa Volk: Dagegen spricht ja schon die völlige Inter-
nationalität der gegenwärtigen architektonischen Tendenzen, die ungefähr gleich-
zeitig in Amerika, Holland, Österreich, Deutschland und Frankreich eingesetzt
haben.

Einen Hinweis auf die differenziertere Kennzeichnung des Massenphänomens
gibt der technische Terminus „Serienhaus". Die Möglichkeit der Aufreihung der
prinzipiell endlosen, freilich nach Terrain und Verkehrsbedürfnis gruppenmäßig ge-
gliederten, die Wiederholung eines und desselben Elements, nämlich der Hausform,
 
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