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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0316
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BESPRECHUNGEN.

gleich" aller Wirksamkeiten. Und stärker als zuvor sammeln die großen Szenen
den Gehalt des Ganzen in sich. Was von Grund auf neu wird, ist dies: das Sym-
metrische der Form hört auf zugleich mit den inneren Voraussetzungen im Geist
Shakespeares, es räumt einer Form den Platz, die gerade auf dem Wissen um die
Ungleichheit der Gewichte beruht. Nur so kann das Geheimnis des Weltwesens und
das Wissen um seine Unlösbarkeit Gestalt werden. Am stärksten offenbart dies der
Lear, da Tun und Leiden des Helden in einem völlig irrationalen Verhältnis stehn:
die Anlässe des Schicksals und der Weltuntergang, der losbricht. Aber auch da,
wo scheinbar eine Wiederkehr der im Jugenddrama dargestellten Symmetrie
von Frevel und Vergeltung ist, in dem so oft und vielfach mit Recht dem Richard
verglichenen Macbeth, ist in Wahrheit eine neue Form: der Frevel selbst i s t schon
Leiden, und was sich darstellt, ist ein Mysterium: der Frevel eine Verknüpfung des
Menschen mit dem All in seiner chaotischen Form. Letzter Gehalt und letzte
Form: die Last der Erde sinkt ab von dem Herzen, das geschaffen war sie zu tra-
gen, Gestalten und Geschicke verlieren ihre Schwere. Aus der Müdigkeit des
Schöpfungsabends, die noch nicht vom Spiel läßt, ersteht noch einmal das Märchen.
Die alte Form, in vielen Teilen entseelt, fällt dem Bühnenspiel heim, das einst
Shakespeares Feuer neugeglüht hatte. Ganz neu wird die „diastolische" Form nur
im Sturm, dem einzigen Werk, darin sich, der Verwandlung satt, der Dichter b e -
kennt ; sie erneut sich im Abendlicht naher Heimkehr und Lösung.

Das zweite für Gundolfs Dramenanalysen Entscheidende ist ein Gewahrwerden
innerer Form. Auch hier ist der höhere Gesichtspunkt, daß von da aus der Begriff
des Schöpfers neu gefüllt wird. Immer wieder betätigt sich die Einsicht, wie alles
im Drama Shakespeares vom Menschen aus lebt: „Der Mensch hegt alle Natur
und Geschichte und seiner welthaltigen Seele antwortet die seelenhaltige Welt.
Jedem begegnet in Raum und Zeit was er weset in Blut und Sinn, jedem wider-
fährt sein gespanntes Innen als ereignetes Außen von Landschaften, Gesellschaf-
ten, Personen ... Natur ist ihm der Inbegriff der Erdkräfte, wodurch Menschen-
geschichte entsteht, Geschichte nicht nur Vorgangsreihe, sondern wachsende, flu-
tende Schöpfung" (Bd. II, S. 286). Daß also bei Shakespeare durch diese Welt-
haltigkeit des Menschen „das All in sich gebunden ist", ist Gundolfs Erkenntnis.
Es ist klar, wie ihr Sinn abweicht von dem, der verbunden zu werden pflegt mit
dem geläufigen Worte: „Shakespeares Drama ist das Drama vom Menschen". Dies
bedeutet, daß nur im Ich, nicht in einem wie auch immer außermenschlichem Be-
gebnis oder Mächtekreis, sondern einzig im leidenschaftlichen Geschöpf der ganze
Stoff und die ganze Kraft des dramatischen Schicksals beruhe, daß ferner nir-
gends eine so vielfältig gestufte Fülle von Menschtümern zu finden sei. Über die-
ses hinaus sieht nun Gundolf, daß der Mensch in seiner Kampfbewegung die ganze
Welt heraufbringt, so allseitig, so durchatmet, wie es nur die lebendige Schöpfung
kennt. Daß die Welt mitatmet, wo Shakespeares Menschen atmen. Bedeutsamer
noch als diese Einsicht ist der entschlossene Versuch, sie bei der gesamten Inter-
pretation der Werke wirklich zu betätigen. In der Durchführung dieser beiden Un-
ternehmen, die Werke als Offenbarung von Kräften, Lebensstufen und Verwand-
lungen eines Schöpfergeistes darzustellen und als immer erneute Vergegenwärtigung
der ganzen Welt durch den ganzen Menschen, beruht die Leistung dieses Buches.
Freilich: auch die Problematik, von der noch zu sprechen sein wird, hat in dem
Wagnis solcher restlosen Durchführung ihre Ursache.

Weil aber das „Wie" der Durchführung mehr noch als das „Was" der Er-
kenntnis den Gewinn des Buches bedingt, müssen entscheidende Proben des Ver-
fahrens und seiner Ergebnisse geboten werden. Wir wählen aus den Weg von Hein-
 
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