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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft: 4.Kongress-Bericht — Beilagenheft.1931

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Stechow, Wolfgang: Raum und Zeit in der graphischen und musikalischen Illustration
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https://doi.org/10.11588/diglit.49717#0129
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RAUM UND ZEIT I. D. GRAPH. U. MUSIK. ILLUSTRATION. H9
Eine solche Illustration verlangt ohne Zweifel Lektüre des Textes,
um verständlich zu sein. In manchen Fällen zieht sie ihre anschaulichen
Elemente aus dem Sinnspruch, in vielen aber auch aus dem folgenden
ausführlichen Text, ohne dessen Kenntnis sie dann unfaßlich ist. Das
heißt also, daß der Beschauer zunächst den Text kennen lernen muß —
was an sich ebensogut durch Vorlesen geschehen könnte und mit dem
ästhetischen Prozeß nichts zu tun hat —, dann aber einen sogar ziem-
lich komplizierten ästhetischen Prozeß zu vollziehen hat. Er findet nun
nicht einfach in einer neuen Form, nämlich in anschaulicher Form, die
Elemente des Textinhaltes wieder — so wie in einem selbständigen Ge-
mälde, das einen Textinhalt „wiedergibt“ —, sondern er faßt das an-
schauliche Erlebnis der Illustration mit einem ganz neuen anschaulichen
Erlebnis, dem des Textbildes zusammen, das vorher für ihn als
„Bild“ nicht existierte, und erst diese Vereinigung von Textbild und Illu-
stration macht das ästhetische Phänomen vollständig, das hier zu be-
trachten ist. Damit wird aber die zeitlich gebundene Inhaltserfassung
zur räumlich gebundenen ästhetischen Erfassung, und zwar sowohl für
das Textbild, das nunmehr eben nur noch das anschauliche Abbild des
Textes ist, wie für die Illustration, die — nunmehr sogleich „verständ-
lich“ — mit dem Textbild eine neue ästhetische, eine — im weitesten
Sinne verstanden — räumliche Einheit bildet.
Dabei ist deutlich, daß die neue, anschauliche, raumgebundene
Einheit der Illustration in der Tat nahezu zeitentbunden ist, zu-
nächst insofern, als sie gleichsam mit einem Blick überschaubar ist, also
im Sinne der Dauer des Aktes der ästhetischen Erfassung (soweit man
davon überhaupt sprechen kann, also natürlich unter Eliminierung der
physiologischen Bedingungen des Sehens in jedem Falle). Denn eine
Illustration mag so „primitiv“ sein wie sie will, sie wird doch stets in
räumlicher Einheit schnell überschaubar sein, selbst dann, wenn sie etwa
inhaltlich koordinierend komponiert ist wie im Mittelalter: auch das Ko-
ordinieren vor einem Goldgrund ist ein Zusammenfassen durch diesen,
um wieviel mehr etwa ein Zentrieren auf ihm; und selbst eine das Text-
bild umschließende Illustration, wie etwa in Dürers Gebetbuchzeichnun-
gen, dient der unmittelbaren Anschaulichkeit, ja in besonders entwickel-
ter Weise, indem sie zwar äußerlich die Raumeinheit der Illustration an
sich lockert, dagegen ihre ästhetische Einheit mit dem Textbild unter-
streicht und damit, vom Ganzen her gesehen, erst recht raumgebunden
erscheint. Schließlich kann daran erinnert werden, daß ja auch die
äußere Form der Illustration immer wieder aus ästhetischen Gründen
besonderen Gesetzen der Überschaubarkeit sich unterwirft: Der Verzicht
auf Farbigkeit und dritte Dimension, die Wandlung der Schrift usw.
 
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