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ERNST CASSIRER.
auch an sich etwas ohne ausgesprochene Tendenz, die doch bloß für
den Begriff ist"1). In diesem Sinne sind all die großen Dichtwerke Goethes
zwar keineswegs „irrational", aber schlechthin „inkalkulabel". „Alles
Lyrische" — so hat Goethe einmal gesagt — „muß im Ganzen sehr
vernünftig, im Einzelnen ein bißchen unvernünftig sein"2). Und er sah
alle poetische Produktion vom Standpunkt und vom Mittelpunkt der
Lyrik aus, die bezeichnenderweise in Boileaus Schema der dichteri-
schen Gattungen keine Stelle gefunden hatte. In diesen Zusammenhängen,
die Goethe nicht als Theoretiker aufgezeigt, sondern die er in seinem
Wirken unmittelbar sichtbar gemacht hat, liegt die unermeßliche Kraft
der Befreiung, die von ihm ausgegangen ist. Er selbst hat seine g e -
schich11 iche Mission in diesem Sinne gesehen und verstanden. Er
hat in der Dichtung nicht den Anspruch erhoben, als Meister zu gelten;
aber er hat sich den Befreier der Dichtung genannt. „Unser Meister ist
derjenige, unter dessen Anleitung wir uns in einer Kunst fortwährend
üben und welcher uns, wie wir nach und nach zur Fertigkeit gelangen,
stufenweise die Grundsätze mitteilt, nach welchen handelnd wir das er-
sehnte Ziel am sichersten erreichen. In solchem Sinne war ich Meister
von Nieman dfWenn ich aber aussprechen soll, was ich den Deutschen
überhaupt, besondern den jungen Dichtern geworden bin, so darf ich
mich wohl ihren Befreier nennen; denn sie sind an mir gewahr wor-
den, daß, wie der Mensch von innen heraus leben, der Künstler von innen
heraus wirken müsse, indem er, gebärde er sich, wie er will, immer nur
sein Individuum zu Tage fördern wird"^)J
In diesem schlichten Satz ist im Grunde die gesamte Summe der
„subjektiven Poetik" Goethes enthalten. Dem dichterischen Schaffens-
prozeß als solchem hat er nicht nachgegrübelt, und über ihn hat er keine
Regeln aufzustellen gesucht. Das mag auf den ersten Blick befremdlich
und paradox erscheinen: denn es ergibt sich daraus, daß Goethe, für den
es kaum irgendeinen Gegenstand, sei es der Natur, sei es der geistigen
Welt, gibt, den er nicht mit seinem Denken in Beziehung zu setzen und
mit ihm zu durchdringen strebt, diese Beziehung gerade dort abbricht,
wo es sich um den eigentlichen Mittelpunkt seiner Welt, wo es sich .um
die produktive Urkraft der Dichtung handelt. Die Erklärung für diese
Paradoxie liegt darin, daß diese Kraft für Goethe die eigentliche und
eigentümliche Licht quelle war, die ihm die Gestalt der Dinge und die
Gestalt der Menschenwelt erst sichtbar machte — daß er aber eben dieses
ursprüngliche Organ seines Sehens nicht selbst wieder in einen
J) Zu Eckermann, 18. Januar 1825. Gespr. III, 157.
-') Maximen und Reflexionen, hg. v. Max H e c k e r, Schriften der Goethe-
gesellschaft Bd. 21. Weimar 1907, Nr. 130.
:') Ein Wort für junge Dichter, Wenn. Ausg. Bd. 42, 2. Abt., S. 106.
ERNST CASSIRER.
auch an sich etwas ohne ausgesprochene Tendenz, die doch bloß für
den Begriff ist"1). In diesem Sinne sind all die großen Dichtwerke Goethes
zwar keineswegs „irrational", aber schlechthin „inkalkulabel". „Alles
Lyrische" — so hat Goethe einmal gesagt — „muß im Ganzen sehr
vernünftig, im Einzelnen ein bißchen unvernünftig sein"2). Und er sah
alle poetische Produktion vom Standpunkt und vom Mittelpunkt der
Lyrik aus, die bezeichnenderweise in Boileaus Schema der dichteri-
schen Gattungen keine Stelle gefunden hatte. In diesen Zusammenhängen,
die Goethe nicht als Theoretiker aufgezeigt, sondern die er in seinem
Wirken unmittelbar sichtbar gemacht hat, liegt die unermeßliche Kraft
der Befreiung, die von ihm ausgegangen ist. Er selbst hat seine g e -
schich11 iche Mission in diesem Sinne gesehen und verstanden. Er
hat in der Dichtung nicht den Anspruch erhoben, als Meister zu gelten;
aber er hat sich den Befreier der Dichtung genannt. „Unser Meister ist
derjenige, unter dessen Anleitung wir uns in einer Kunst fortwährend
üben und welcher uns, wie wir nach und nach zur Fertigkeit gelangen,
stufenweise die Grundsätze mitteilt, nach welchen handelnd wir das er-
sehnte Ziel am sichersten erreichen. In solchem Sinne war ich Meister
von Nieman dfWenn ich aber aussprechen soll, was ich den Deutschen
überhaupt, besondern den jungen Dichtern geworden bin, so darf ich
mich wohl ihren Befreier nennen; denn sie sind an mir gewahr wor-
den, daß, wie der Mensch von innen heraus leben, der Künstler von innen
heraus wirken müsse, indem er, gebärde er sich, wie er will, immer nur
sein Individuum zu Tage fördern wird"^)J
In diesem schlichten Satz ist im Grunde die gesamte Summe der
„subjektiven Poetik" Goethes enthalten. Dem dichterischen Schaffens-
prozeß als solchem hat er nicht nachgegrübelt, und über ihn hat er keine
Regeln aufzustellen gesucht. Das mag auf den ersten Blick befremdlich
und paradox erscheinen: denn es ergibt sich daraus, daß Goethe, für den
es kaum irgendeinen Gegenstand, sei es der Natur, sei es der geistigen
Welt, gibt, den er nicht mit seinem Denken in Beziehung zu setzen und
mit ihm zu durchdringen strebt, diese Beziehung gerade dort abbricht,
wo es sich um den eigentlichen Mittelpunkt seiner Welt, wo es sich .um
die produktive Urkraft der Dichtung handelt. Die Erklärung für diese
Paradoxie liegt darin, daß diese Kraft für Goethe die eigentliche und
eigentümliche Licht quelle war, die ihm die Gestalt der Dinge und die
Gestalt der Menschenwelt erst sichtbar machte — daß er aber eben dieses
ursprüngliche Organ seines Sehens nicht selbst wieder in einen
J) Zu Eckermann, 18. Januar 1825. Gespr. III, 157.
-') Maximen und Reflexionen, hg. v. Max H e c k e r, Schriften der Goethe-
gesellschaft Bd. 21. Weimar 1907, Nr. 130.
:') Ein Wort für junge Dichter, Wenn. Ausg. Bd. 42, 2. Abt., S. 106.