GOETHE UND DAS ACHTZEHNTE JAHRHUNDERT. 125
Gegenstand des Sehens verwandeln konnte, noch es hierin zu ver-
wandeln brauchte. Goethe hat niemals eine psychologische oder ästhe-
tische Theorie des dichterischen Schaffens zu geben versucht, weil einer
solchen Theorie nichts in seiner künstlerischen Erfahrung ent-
sprochen hätte. Von seinen reinsten und tiefsten Schöpfungen, wie vom
Werther, hat er gesagt, daß er sie ziemlich unbewußt, „einem Nacht-
wandler ähnlich" geschrieben habe1). Diesen inneren Prozeß des Wer-
dens versuchte Goethe weder von außen zu sehen noch von außen zu
regeln. Er konnte weder sein Motiv willkürlich wählen, noch konnte er
sich in der Gestaltung und Durchführung dem festen Gesetz und den
bestehenden Normbegriffen bestimmter Gattungen unterwerfen. Goethe
hat diese Begriffe keineswegs bestritten — aber er läßt auch sie von
innen her bestimmt und daher frei-beweglich sein. Und in diesem freien
Verhalten des künstlerischen Individuums gegen die gattungsmäßigen
Normen sieht er das eigentliche Kennzeichen des Genies. Das Genie
entzieht sich der Bindung nirgends, aber es empfängt diese Bin-
dung nicht, sondern muß sie stetig und ständig von neuem erzeugen.
In diese doppelte Bestimmung faßt Goethe die Erklärung des künst-
lerischen „Geschmacks" zusammen: und damit gibt er diesem Begriff
eine ganz neue Tiefe, die er in der ästhetischen Diskussion des achtzehn-
ten Jahrhunderts nirgends erreicht hatte. Die Lehre vom Geschmack
knüpft in Frankreich an das Werk Bouhours „Maxime de bien penser
dans les ouvrages d'esprit" (1717), in Deutschland an gewisse Grund-
bestimmungen der Leibnizischen Philosophie an. Beiden Richtungen ist
gemeinsam, daß sie den Geschmack im Wesentlichen als eine Art des
Urteils und der Schlußfolgerung bestimmen — als eine Schluß-
folgerung, die die einzelnen Prämissen, auf denen sie beruht, nicht
explizit auseinanderlegt und sie sich im Einzelnen deutlich vergegen-
wärtigt, sondern die sich mit einer raschen Zusammenfassung, mit einer
„verworrenen Vorstellung" dieser Prämissen begnügt. So definiert etwa
L a M o 11 e den Geschmack als „un jugement confus et presque de simple
sentiment"2), und Leibniz erklärt, daß der Geschmack auf gewissen ver-
worrenen Empfindungen (perceptions confuses) beruhe, von denen man
sich keine vollständige Rechenschaft zu geben vermöge, und die daher
dem Instinkt verwandt seien-). Goethe aber hebt den Begriff des Ge-
schmacks gewissermaßen in eine höhere Dimension des Geistigen,
indem er ihn nicht im bloßen Aufnehmen und Betrachten des Kunst-
werks sucht, sondern ihn im künstlerischen Schaffen wirksam sein
läßt. An eben der Stelle, an der er sich gegen die konventionelle
i) Dichtung und Wahrheit, 13. Buch, W. A. 28, 224.
-) Vgl. H. v. Stein, Die Entstehung der neuen Ästhetik (1886), S. 94.
3) I. Leibnitz, Philos. Schriften (Gerhardt) III, 430.
Gegenstand des Sehens verwandeln konnte, noch es hierin zu ver-
wandeln brauchte. Goethe hat niemals eine psychologische oder ästhe-
tische Theorie des dichterischen Schaffens zu geben versucht, weil einer
solchen Theorie nichts in seiner künstlerischen Erfahrung ent-
sprochen hätte. Von seinen reinsten und tiefsten Schöpfungen, wie vom
Werther, hat er gesagt, daß er sie ziemlich unbewußt, „einem Nacht-
wandler ähnlich" geschrieben habe1). Diesen inneren Prozeß des Wer-
dens versuchte Goethe weder von außen zu sehen noch von außen zu
regeln. Er konnte weder sein Motiv willkürlich wählen, noch konnte er
sich in der Gestaltung und Durchführung dem festen Gesetz und den
bestehenden Normbegriffen bestimmter Gattungen unterwerfen. Goethe
hat diese Begriffe keineswegs bestritten — aber er läßt auch sie von
innen her bestimmt und daher frei-beweglich sein. Und in diesem freien
Verhalten des künstlerischen Individuums gegen die gattungsmäßigen
Normen sieht er das eigentliche Kennzeichen des Genies. Das Genie
entzieht sich der Bindung nirgends, aber es empfängt diese Bin-
dung nicht, sondern muß sie stetig und ständig von neuem erzeugen.
In diese doppelte Bestimmung faßt Goethe die Erklärung des künst-
lerischen „Geschmacks" zusammen: und damit gibt er diesem Begriff
eine ganz neue Tiefe, die er in der ästhetischen Diskussion des achtzehn-
ten Jahrhunderts nirgends erreicht hatte. Die Lehre vom Geschmack
knüpft in Frankreich an das Werk Bouhours „Maxime de bien penser
dans les ouvrages d'esprit" (1717), in Deutschland an gewisse Grund-
bestimmungen der Leibnizischen Philosophie an. Beiden Richtungen ist
gemeinsam, daß sie den Geschmack im Wesentlichen als eine Art des
Urteils und der Schlußfolgerung bestimmen — als eine Schluß-
folgerung, die die einzelnen Prämissen, auf denen sie beruht, nicht
explizit auseinanderlegt und sie sich im Einzelnen deutlich vergegen-
wärtigt, sondern die sich mit einer raschen Zusammenfassung, mit einer
„verworrenen Vorstellung" dieser Prämissen begnügt. So definiert etwa
L a M o 11 e den Geschmack als „un jugement confus et presque de simple
sentiment"2), und Leibniz erklärt, daß der Geschmack auf gewissen ver-
worrenen Empfindungen (perceptions confuses) beruhe, von denen man
sich keine vollständige Rechenschaft zu geben vermöge, und die daher
dem Instinkt verwandt seien-). Goethe aber hebt den Begriff des Ge-
schmacks gewissermaßen in eine höhere Dimension des Geistigen,
indem er ihn nicht im bloßen Aufnehmen und Betrachten des Kunst-
werks sucht, sondern ihn im künstlerischen Schaffen wirksam sein
läßt. An eben der Stelle, an der er sich gegen die konventionelle
i) Dichtung und Wahrheit, 13. Buch, W. A. 28, 224.
-) Vgl. H. v. Stein, Die Entstehung der neuen Ästhetik (1886), S. 94.
3) I. Leibnitz, Philos. Schriften (Gerhardt) III, 430.