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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 26.1932

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Cassirer, Ernst: Goethe und das achtzehnte Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.14167#0127
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Goethe und das achtzehnte Jahrhundert.

Von

Ernst Cassirer.

In der Charakteristik, die G o e t h e in „Dichtung und Wahrheit" vom
Wesen und Wirken Johann Georg Hamanns, des „Magus aus Nor-
den", gegeben hat, bezeichnet er als das Prinzip, auf welches die sämt-
lichen Äußerungen Hamanns sich zurückführen lassen, den Satz, daß
alles, was der Mensch zu leisten unternimmt, es werde nun durch Tat
oder Wort hervorgebracht, aus sämtlichen vereinigten Kräften entsprin-
gen müsse: „alles Vereinzelte ist verwerflich". „Eine herrliche Maxime,
aber schwer zu befolgen! Von Leben und Kunst mag sie freilich gelten;
bei jeder Überlieferung durchs Wort hingegen, die nicht gerade poetisch
ist, findet sich eine große Schwierigkeit; denn das Wort muß sich ab-
lösen, es muß sich vereinzeln, um etwas zu sagen, zu bedeuten. Der
Mensch, indem er spricht, muß für den Augenblick einseitig werden; es
gibt keine Mitteilung, keine Lehre, ohne Sonderung." Nirgends empfin-
det man diesen Grundmangel des Wortes, diese seine ihm notwendig
anhaftende Enge, so unmittelbar und so schmerzlich, als wenn man sich
anschickt, von Goethe zu sprechen. Man fühlt, daß i h m gegenüber
im höchsten Maße und im allertiefsten Sinn der Satz gilt, daß alles Ver-
einzelte verwerflich sei. Man begreift, daß keine einzelne seiner Äuße-
rungen, noch ihre bloße Zusammenfassung, ihre Gesamtsumme, im-
stande ist, sein Wesen zu fassen. Dieses Wesen ist in all der ungeheuren
Weite der Leistung Goethes und in der unvergleichlichen Mannig-
faltigkeit der Wirkungen, die von ihm ausgehen, nicht sichtbar zu
machen. Es gehört einer letzten Urschicht seines Daseins an, in der sich
all das, was für uns getrennt erscheint, unmittelbar vereinigt und wie in
einem einzigen Brennpunkt zusammenfaßt. Aber vergeblich streben wir
danach, diesen „geheimen Einheitspunkt" in Worten festzuhalten. Was
wir fassen und halten können, ist immer nur je eine besondere Kraft, die
von diesem lebendigen Kraftmittelpunkt ausströmt. Wir folgen den ver-
schiedenen Richtungen dieser Kraft, — wir suchen uns das, was Goethe
als Künstler, was er als Forscher, was er als Denker war, sichtbar zu
machen — aber immer wieder kommt uns in jeder dieser Betrachtungen

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XXVI. 8
 
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