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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 26.1932

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Cassirer, Ernst: Goethe und das achtzehnte Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.14167#0128
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ERNST CASSIRER.

zum Bewußtsein, daß wir mit alledem nur die Breite von Goethes Da-
sein abschreiten, nicht aber seine Tiefe bestimmen und ermessen. So
kann denn jede Äußerung über Goethe nicht anders als im Zeichen
der Entsagung stehen. Wir verzichten auf die Bestimmung der letzten
Einheit und der lebendigen Ganzheit; wir begnügen uns damit, aus ihr je
ein Moment herauszuheben, das sie uns mittelbar repräsentieren, das sie
uns im Symbol und Gleichnis andeuten soll.

Soll ich gemäß dieser notwendigen und notgedrungenen Einschrän-
kung den besonderen Gesichtspunkt bezeichnen, unter den ich die
folgenden Betrachtungen über Goethe stellen möchte, so kann ich hierfür
an eine Forderung anknüpfen, die Goethe selbst einmal als die eigentliche
Grundmaxime für alle geistesgeschichtliche Betrachtung und für alles
eigentliche Verständnis großer Individualitäten aufgestellt hat. Goethe hat
sich in einem eigenen Aufsatz gegen die willkürliche Auslegung gewandt,
die P 1 a t o n s Lehre in der Darstellung und Übersetzung des Grafen
Leopold zu Stolberg erfahren hatte. Es sei wenig damit gewonnen — so
wendet er gegen diese Darstellung ein —, wenn man Piaton als den Vor-
läufer des Christentums preise, wenn man ihn um jeden Preis zum „Mit-
genossen einer christlichen Offenbarung" machen wolle. Was ihm gegen-
über erforderlich und nötig sei, sei vielmehr „eine kritische, deutliche Dar-
stellung der Umstände, unter welchen er geschrieben, der Motive, aus
welchen er geschrieben"1). So fordert Goethe, daß Piaton in seine Zeit
hineingestellt und daß er aus ihren Problemen und ihren Motiven
heraus begriffen wird. Wenden wir diese Forderung auf ihn selbst an,
so entsteht die Frage, wie Goethe selbst zu seiner Epoche gestanden hat
— was er ihr an Voraussetzungen, an Motiven, an Problemstellungen und
Entscheidungen verdankt, und was er ihr in all diesen Hinsichten neu
gegeben hat. Jeder, der sich in Goethes Werk versenkt, fühlt unmittelbar,
daß das geistig-strenge Band, das dieses Werk mit seiner Epoche ver-
knüpft, nicht zu trennen ist. Wir können Goethe nicht willkürlich aus
den tausendfältigen Verbindungen lösen, in denen er steht; wir können
ihn nicht in den luftleeren Raum hineinstellen, sondern müssen ihn inner-
halb seiner geistig-geschichtlichen Atmosphäre, innerhalb der Bil-
dungsgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, betrachten. Aber auf der
anderen Seite erfahren wir freilich immer wieder, daß alle Maßstäbe, die
wir diesem Kreise entnehmen, unzureichend bleiben, daß wir mit ihnen
die Weite und die Tiefe von Goethes Werk nicht ausmessen können. Denn
das Entscheidende in Goethes Dasein und in seiner Leistung besteht eben
darin, daß sich in ihnen ein Umschwung und eine Neubildung der gei-

') Plalo als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung (1796); Weim. Aus«-.
Bd. 41, T. 2, S. 170.
 
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