300
BEMERKUNGEN.
subjektiven Ausdruckswillen des Sprechers, ohne den keine lebendige Wirkung auf
die Hörer erzielt werden könne. Die Ergründung der objektiven Merkmale der
Schallform, wie sie durch Rhythmus, Melodie, Klangart, Sprechweise und Sprach-
schmuck gegeben werden, erscheint ihm als eine selbstverständliche Pflicht des Vor-
tragenden, der nicht zum Virtuosensprecher herabsinken wolle. Auf einem ähnlichen
Standpunkt wie Drach steht in seinen grundsätzlichen Ausführungen Fritz Ge-
ratewohl7); wo er ins Einzelne gehende Hinweise gibt, kommt er indes den For-
derungen Wittsacks durchaus entgegen.
Man erkennt, daß diese Lehren keineswegs in unvereinbarem Gegensatz zuein-
ander stehen. Wenn sich Drach gegen die Verfechter einer objektiven Vortrags-
kunst ausspricht, die vermeinen, ein Dichtwerk dadurch vollkommen wiedergeben zu
können, daß sie bestrebt sind, ohne subjektive Stellungnahme lediglich die Merkmale
der Schallform zum Erklingen zu bringen, so betont demgegenüber W i 11 s a c k
nachdrücklich genug die Rolle des Einfühlungsvermögens und der Intuition. Und
wenn sich W i 11 s a c k mit Schärfe gegen den Virtuosensprecher wendet, der keine
Rücksicht auf das Wortkunstwerk nehme, so kann er sich sowohl mit Drach wie
mit Geratewohl einig fühlen. Die eigentlich unversöhnlichen Pole liegen eben
gleichsam noch über den gekennzeichneten Unterschied hinaus. Die objektive Sprech-
kunst hat in ihrer extremsten, von Drach mit Recht bekämpften Form mit Kunst-
übung offenbar nichts mehr zu schaffen. Sie mag noch als Illustration für wissen-
schaftliche Theorien eine Rolle spielen, den Namen „Sprechkunst" wird man ihr
billigerweise verweigern. Das gegenüberliegende Extrem einer rein subjektiven
Sprechweise büßt nicht den Charakter der Kunst, wohl aber den einer Darstellung
von Dichtungen ein» Die von den genannten Sprecherziehern vertretenen Stand-
punkte aber bleiben sowohl innerhalb des Bereiches der Kunst, wie sie zugleich auch
Dichtung in ihrem objektiven Wesensgehalt zu vermitteln suchen.
Eine Reihe von Fragen drängt sich auf: Welcher der gekennzeichneten Stand-
punkte ist dem anderen vorzuziehen? Welche subjektiven Auffassungsweisen gibt es
überhaupt und wie verhalten sie sich einerseits zu den individuellen sprecherischen
Wiedergaben, andrerseits zu der Aufgabe einer objektiven Sprechkunst?
Die erste Frage ist offenbar nicht theoretischer, sondern praktischer Natur. Sie
gilt nicht der Feststellung irgend eines Sachverhaltes, dessen Richtigkeit jedermann
überprüfen kann, sondern einer Entscheidung in einem Wettstreit der Werte. Man
kann ebensowohl die Persönlichkeit des Sprechers wie das Werk des Dichters als
einen bevorzugten Wert empfinden. Die Tatsache, daß extrem subjektive Sprech-
kunst heute „aus der Mode" gekommen ist, verleitet leicht zu dem Glauben, daß ob-
jektive Sprechkunst die allein berechtigte, die allein richtige Form dieser Kunstübung
ist. Mag man sich auch mit Hilfe der Schallanalyse, durch das Studium der objek-
tiven Merkmale der Schallform noch so sehr der gegebenen Gestalt des Kunstwerkes
anzunähern vermögen, die Tatsache, daß etwas derartiges möglich wäre, würde noch
keineswegs die Frage entscheiden, ob wir diesen Weg auch tatsächlich gehen sollen.
Denn ebenso möglich ist es ja auch, die eigene Persönlichkeit in eine synthetische
Verschmelzung mit der Dichtung zu bringen und gerade dadurch eine besondere
Wirkung auf die Hörer auszuüben. Man könnte nun meinen, daß es in erster Linie
der Zweck der sprechkünstlerischen Tätigkeit sei, der unsere Wahl entscheidend
beeinflusse. Will man in erster Linie — so könnte man argumentieren — das Werk
zur Erscheinung bringen, wie das insbesondere im Zusammenhange mit literar-
wissenschaftlichen Studien erwünscht sein kann, dann wird man die objektive Rich-
tung geeignet befinden. Handelt es sich aber darum, eine starke Persönlichkeits-
7) Das deutsche Vortragsbuch, München, 1929, S. 14.
BEMERKUNGEN.
subjektiven Ausdruckswillen des Sprechers, ohne den keine lebendige Wirkung auf
die Hörer erzielt werden könne. Die Ergründung der objektiven Merkmale der
Schallform, wie sie durch Rhythmus, Melodie, Klangart, Sprechweise und Sprach-
schmuck gegeben werden, erscheint ihm als eine selbstverständliche Pflicht des Vor-
tragenden, der nicht zum Virtuosensprecher herabsinken wolle. Auf einem ähnlichen
Standpunkt wie Drach steht in seinen grundsätzlichen Ausführungen Fritz Ge-
ratewohl7); wo er ins Einzelne gehende Hinweise gibt, kommt er indes den For-
derungen Wittsacks durchaus entgegen.
Man erkennt, daß diese Lehren keineswegs in unvereinbarem Gegensatz zuein-
ander stehen. Wenn sich Drach gegen die Verfechter einer objektiven Vortrags-
kunst ausspricht, die vermeinen, ein Dichtwerk dadurch vollkommen wiedergeben zu
können, daß sie bestrebt sind, ohne subjektive Stellungnahme lediglich die Merkmale
der Schallform zum Erklingen zu bringen, so betont demgegenüber W i 11 s a c k
nachdrücklich genug die Rolle des Einfühlungsvermögens und der Intuition. Und
wenn sich W i 11 s a c k mit Schärfe gegen den Virtuosensprecher wendet, der keine
Rücksicht auf das Wortkunstwerk nehme, so kann er sich sowohl mit Drach wie
mit Geratewohl einig fühlen. Die eigentlich unversöhnlichen Pole liegen eben
gleichsam noch über den gekennzeichneten Unterschied hinaus. Die objektive Sprech-
kunst hat in ihrer extremsten, von Drach mit Recht bekämpften Form mit Kunst-
übung offenbar nichts mehr zu schaffen. Sie mag noch als Illustration für wissen-
schaftliche Theorien eine Rolle spielen, den Namen „Sprechkunst" wird man ihr
billigerweise verweigern. Das gegenüberliegende Extrem einer rein subjektiven
Sprechweise büßt nicht den Charakter der Kunst, wohl aber den einer Darstellung
von Dichtungen ein» Die von den genannten Sprecherziehern vertretenen Stand-
punkte aber bleiben sowohl innerhalb des Bereiches der Kunst, wie sie zugleich auch
Dichtung in ihrem objektiven Wesensgehalt zu vermitteln suchen.
Eine Reihe von Fragen drängt sich auf: Welcher der gekennzeichneten Stand-
punkte ist dem anderen vorzuziehen? Welche subjektiven Auffassungsweisen gibt es
überhaupt und wie verhalten sie sich einerseits zu den individuellen sprecherischen
Wiedergaben, andrerseits zu der Aufgabe einer objektiven Sprechkunst?
Die erste Frage ist offenbar nicht theoretischer, sondern praktischer Natur. Sie
gilt nicht der Feststellung irgend eines Sachverhaltes, dessen Richtigkeit jedermann
überprüfen kann, sondern einer Entscheidung in einem Wettstreit der Werte. Man
kann ebensowohl die Persönlichkeit des Sprechers wie das Werk des Dichters als
einen bevorzugten Wert empfinden. Die Tatsache, daß extrem subjektive Sprech-
kunst heute „aus der Mode" gekommen ist, verleitet leicht zu dem Glauben, daß ob-
jektive Sprechkunst die allein berechtigte, die allein richtige Form dieser Kunstübung
ist. Mag man sich auch mit Hilfe der Schallanalyse, durch das Studium der objek-
tiven Merkmale der Schallform noch so sehr der gegebenen Gestalt des Kunstwerkes
anzunähern vermögen, die Tatsache, daß etwas derartiges möglich wäre, würde noch
keineswegs die Frage entscheiden, ob wir diesen Weg auch tatsächlich gehen sollen.
Denn ebenso möglich ist es ja auch, die eigene Persönlichkeit in eine synthetische
Verschmelzung mit der Dichtung zu bringen und gerade dadurch eine besondere
Wirkung auf die Hörer auszuüben. Man könnte nun meinen, daß es in erster Linie
der Zweck der sprechkünstlerischen Tätigkeit sei, der unsere Wahl entscheidend
beeinflusse. Will man in erster Linie — so könnte man argumentieren — das Werk
zur Erscheinung bringen, wie das insbesondere im Zusammenhange mit literar-
wissenschaftlichen Studien erwünscht sein kann, dann wird man die objektive Rich-
tung geeignet befinden. Handelt es sich aber darum, eine starke Persönlichkeits-
7) Das deutsche Vortragsbuch, München, 1929, S. 14.