BEMERKUNGEN.
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Wirkung zu erzielen, die Hörer zu begeistern — wie das z. B. auch im Schulunter-
richte sehr wohl am Platze sein kann — so würde der Sprecher eine solche Wirkung
nicht allein durch eine Versenkung in den objektiven Stilcharakter der Dichtung, son-
dern nur durch eine gleichzeitige Entfaltung der eigenen Persönlichkeit erzielen
können. In Wirklichkeit scheint freilich die Setzung der gekennzeichneten Werte in
nur geringem Grade von dem objektiven Zwecke der sprecherischen Leistung ab-
zuhängen. Entscheidend scheint vielmehr die personale Veranlagung zu sein.
Damit werden wir zu den nächsten der aufgeworfenen Fragen geführt: Welche
subjektiven Auffassungsweisen gibt es überhaupt und wie verhalten sie sich zur in-
dividuellen sprecherischen Wiedergabe?
Um auf diese Fragen eine befriedigende Antwort zu erhalten, wurden mehrere
Reihen von Versuchen angestellt, von denen eine hier teilweise dargestellt werden
soll. Es wurden zunächst drei Gedichte von verschiedenen Autoren ausgewählt:
Klopstocks Ode „An Fanny" (I), Conrad Ferdinand Meyers „Erntegewitter" (II)
und Theodor Storms „Abseits" (III). Jedes dieser Gedichte wurde je fünfzehn Ver-
suchspersonen mit der Instruktion übergeben, das Gedicht zu lesen und sich zu
dessen sprecherischer Wiedergabe vorzubereiten. Es handle sich nicht darum, das
Kunstwerk als solches auf sich wirken zu lassen und diese Wirkung zu beschreiben,
vielmehr müßte an die Dichtung mit der ausdrücklichen Absicht herangetreten wer-
den, die nötige Vorarbeit zu ihrer Wiedergabe zu leisten. Das bei dieser Vorarbeit
Erlebte sollte nun in möglichster Genauigkeit zu Papier gebracht werden, gleich-
gültig ob es in einer neugewonnenen Erkenntnis der Gestaltzüge der Dichtung oder
in einer Gefühlsreaktion auf dieselbe oder endlich in einem Einfall über die Art des
Vortrages bestehe. Dabei sollte der Gang der Vorbereitung in keine der Vp. un-
natürliche Richtung gezwungen werden. Jede neuerliche Versenkung in die Dichtung
war mit „xxx" zu bezeichnen. Auch diejenigen Reaktionen, die den Vpp. als noch
nicht endgültig erschienen, selbst solche, die sie als ausgesprochen falsch empfän-
den, sollten aufgeschrieben werden.
Die Vpp. dieser Reihe waren durchwegs Hörer (17) und Hörerinnen (28) der
Wiener Universität und mit einer einzigen Ausnahme Philologen. Die Altersgrenzen
waren 19 und 27 Jahre. Mit den ausgewählten Gedichten hatte sich nur eine Ver-
suchsperson vorher schon sprecherisch beschäftigt; vierzehn gaben an, das ihnen
vorgelegte Gedicht zu kennen. Alle Hörer hatten schon sprechtechnischen Unter-
richt genossen, 34 durch ein, 8 durch zwei, 1 durch drei Semester hindurch, während
eine m. Vp. schon mehrjährigen Privatunterricht erhalten hatte. 13 hatten schon
öffentlich oder im Privatkreise vorgetragen.
Die in dieser Versuchsreihe untersuchten Personen standen somit insgesamt un-
ter dem Einfluß wissenschaftlicher Denkweise; insbesondere war die Einwirkung
literaturwissenschaftlicher und ästhetischer Lehren keineswegs ausgeschlossen, wenn-
gleich diesem Umstand, wie die Erfahrung lehrte, kein allzu großes Gewicht bei-
zumessen ist.
Im Folgenden sei der Originaltext der ausgewählten Gedichte wiedergegeben.
I. An Fanny.
Wenn einst ich tot bin, wenn mein Gebein zu Staub
Ist eingesunken, wenn du, mein Auge, nun
Lang über meines Lebens Schicksal,
Brechend im Tode, nun ausgeweint hast
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Wirkung zu erzielen, die Hörer zu begeistern — wie das z. B. auch im Schulunter-
richte sehr wohl am Platze sein kann — so würde der Sprecher eine solche Wirkung
nicht allein durch eine Versenkung in den objektiven Stilcharakter der Dichtung, son-
dern nur durch eine gleichzeitige Entfaltung der eigenen Persönlichkeit erzielen
können. In Wirklichkeit scheint freilich die Setzung der gekennzeichneten Werte in
nur geringem Grade von dem objektiven Zwecke der sprecherischen Leistung ab-
zuhängen. Entscheidend scheint vielmehr die personale Veranlagung zu sein.
Damit werden wir zu den nächsten der aufgeworfenen Fragen geführt: Welche
subjektiven Auffassungsweisen gibt es überhaupt und wie verhalten sie sich zur in-
dividuellen sprecherischen Wiedergabe?
Um auf diese Fragen eine befriedigende Antwort zu erhalten, wurden mehrere
Reihen von Versuchen angestellt, von denen eine hier teilweise dargestellt werden
soll. Es wurden zunächst drei Gedichte von verschiedenen Autoren ausgewählt:
Klopstocks Ode „An Fanny" (I), Conrad Ferdinand Meyers „Erntegewitter" (II)
und Theodor Storms „Abseits" (III). Jedes dieser Gedichte wurde je fünfzehn Ver-
suchspersonen mit der Instruktion übergeben, das Gedicht zu lesen und sich zu
dessen sprecherischer Wiedergabe vorzubereiten. Es handle sich nicht darum, das
Kunstwerk als solches auf sich wirken zu lassen und diese Wirkung zu beschreiben,
vielmehr müßte an die Dichtung mit der ausdrücklichen Absicht herangetreten wer-
den, die nötige Vorarbeit zu ihrer Wiedergabe zu leisten. Das bei dieser Vorarbeit
Erlebte sollte nun in möglichster Genauigkeit zu Papier gebracht werden, gleich-
gültig ob es in einer neugewonnenen Erkenntnis der Gestaltzüge der Dichtung oder
in einer Gefühlsreaktion auf dieselbe oder endlich in einem Einfall über die Art des
Vortrages bestehe. Dabei sollte der Gang der Vorbereitung in keine der Vp. un-
natürliche Richtung gezwungen werden. Jede neuerliche Versenkung in die Dichtung
war mit „xxx" zu bezeichnen. Auch diejenigen Reaktionen, die den Vpp. als noch
nicht endgültig erschienen, selbst solche, die sie als ausgesprochen falsch empfän-
den, sollten aufgeschrieben werden.
Die Vpp. dieser Reihe waren durchwegs Hörer (17) und Hörerinnen (28) der
Wiener Universität und mit einer einzigen Ausnahme Philologen. Die Altersgrenzen
waren 19 und 27 Jahre. Mit den ausgewählten Gedichten hatte sich nur eine Ver-
suchsperson vorher schon sprecherisch beschäftigt; vierzehn gaben an, das ihnen
vorgelegte Gedicht zu kennen. Alle Hörer hatten schon sprechtechnischen Unter-
richt genossen, 34 durch ein, 8 durch zwei, 1 durch drei Semester hindurch, während
eine m. Vp. schon mehrjährigen Privatunterricht erhalten hatte. 13 hatten schon
öffentlich oder im Privatkreise vorgetragen.
Die in dieser Versuchsreihe untersuchten Personen standen somit insgesamt un-
ter dem Einfluß wissenschaftlicher Denkweise; insbesondere war die Einwirkung
literaturwissenschaftlicher und ästhetischer Lehren keineswegs ausgeschlossen, wenn-
gleich diesem Umstand, wie die Erfahrung lehrte, kein allzu großes Gewicht bei-
zumessen ist.
Im Folgenden sei der Originaltext der ausgewählten Gedichte wiedergegeben.
I. An Fanny.
Wenn einst ich tot bin, wenn mein Gebein zu Staub
Ist eingesunken, wenn du, mein Auge, nun
Lang über meines Lebens Schicksal,
Brechend im Tode, nun ausgeweint hast