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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 30.1936

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Lütge, Wilhelm: Das architektonische Prinzip der Matthäuspassion J. S. Bachs
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https://doi.org/10.11588/diglit.14193#0079
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Das architektonische Prinzip der Matthäuspassion J. S. Bachs.

Von

Wilhelm Lütge

Arnold Mendelssohn, der Großmeister der neuzeitlichen protestantischen Kirchen-
musik, äußerte einmal in einem „Bekenntnis zu Bach": „Erstaunlich, ja zunächst fast
befremdlich erscheint es, wie sich in Bachs Musik das sozusagen mathematisch be-
rechnende, konstruktiv kalkulierende Element neben demjenigen des Ausdrucks einer
so tief und stark fühlenden Individualität ohne Störung des einen durch das andere
betätigt. Aber eben durch die scharf rationelle Form erreicht Bach, daß der Aus-
druck seiner subjektiven Empfindung sich als überindividuell, nämlich als ein Gesetz-
mäßiges, Objektives, Ewiges darstellt".

Dieses Wort beweist, wie sehr der Darmstädter Meister vertraut war mit der
Kunstanschauung jener in mehr als einer Hinsicht besonders merkwürdigen Epoche,
die in der Kunstgeschichte als Zeitalter des Hochbarock und in der Geschichte der
Philosophie als Zeitalter des Rationalismus bezeichnet wird und deren geistige Ziel-
setzung und künstlerisches Vermögen in der Philosophie eines Leibniz und in der
Musik eines Bach ihren stärksten, faszinierendsten Ausdruck fanden.

So wie die Kunst einer jeden Epoche nur dann voll verstanden werden kann, wenn
man sie begreift als Ausdruck ihres Weltempfindens, so öffnet sich das Verständnis
für die letzte Wesenheit der Bachschen Musik nur dem, der zutiefst eindringt in die
philosophischen, d. h. allgemeinen geistigen Grundlagen des Bachschen Zeitalters.
Zweifellos hätten manche der Umwege, oder gar Irrwege, die unsere Bachinterpreten
gingen, vermieden werden können, hätten sie Goethes Wort „Wer den Dichter will
verstehn, muß in Dichters Lande gehn" wirklich beherzigt und demzufolge Bachs
Wesen und Werk nicht mit Maßstäben gemessen, die wohl für das Zeitalter der Ro-
mantik brauchbar sind, gegenüber der Musik Bachs jedoch weitgehend versagen
mußten.

Es ist hier nicht der Ort, einen Abriß der Musikanschauung des Barockzeitalters
zu geben. Es soll nur kurz darauf hingewiesen werden, welche überragende Bedeu-
tung jene Zeit der künstlerischen Form, auch der musikalischen Form, beilegte. Die
Form ist für den Künstler des Barock nicht ein notwendiges Übel noch ein unan-
genehmer Zwang, sondern eine metaphysische Gegebenheit, eine im Metaphysischen
begründete Forderung. Darüber darf uns das buntschillernde Wort „Rationalismus",
mit dem man jenes Zeitalter zu umschreiben versuchte, nicht hinwegtäuschen. Denn
der Rationalismus des 18. Jahrhunderts, aus dem heraus der strenge Formensinn des
Barock entstand, ist durchaus anderer Art als der Rationalismus oder besser Mate-
rialismus des 19. Jahrhunderts. Während dieses sich einer entgotteten Natur gegen-
überstellt, sieht der Rationalismus des vorhergehenden Jahrhunderts in der Natur,

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XXX. 5
 
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