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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0320
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BESPRECHUNGEN

Am schwierigsten ist die Beobachtung der „Tonstärke" oder Druckhervor-
hebung, da wir sie ja nur am modernen Vortrag messen können, aber mit Sicherheit
annehmen dürfen, daß der Hervorhebungsdruck zur Zeit Marmontels schwächer
war als heute. Auch zeigt die historisch gut gestützte Untersuchung Knauers in die-
sem Punkt eine sehr wohl begründete Vorsicht. Den Tonfall hat er selbstverständlich
nicht festzustellen versucht. Immer wieder möchte ich die jungen Fachgenossen
mahnen, sich — mit experimentellen Methoden! — der Erforschung der Gegenwart
zu widmen. Ein heutiger Schriftsteller, heut vorgetragen, — das ergibt eine ganz
andere Möglichkeit befriedigender Forschungsergebnisse, als die Betrachtung des
vor 150 Jahren Geschriebenen im Munde eines Heutigen, er mag ein noch so
guter Vortragender sein.

Vortrefflich ist, was Knauer über die Kunst des Vortrages sammelt und selbst
ausspricht. Hier harrt eine Kulturaufgabe ihrer Lösung. Neben die literarische
Stilkunde und wirksamer — weil lebendiger — als sie, sollte Stilkunst als Gesproche-
nes, Gelesenes und Geschriebenes in besonderen Vortrags- und Lesestunden studiert
werden. Jeder Gebildete1) müßte sich üben, den Satzbau zu zergliedern, sich über
das verschiedene Zeit- und Längenmaß der Glieder, die Zahl der Akzente, die Lage
des Hauptakzentes Rechenschaft zu geben. Wie viele Leser legen den Hervor-
hebungsdruck an falsche Stellen und müssen erst darauf gestoßen werden, wo das
„Wichtigste" im Satze ist! Und die vom Durchschnittsleser so verständnislos ver-
nachlässigte Pause — wie dringend für das bare Verständnis, geschweige denn für
die bescheidenste ästhetische Wirkung, ist das Erfassen ihrer inneren Notwendigkeit!
Niemand, der sich ernstlich mit diesem Gegenstande befaßt, wird daran zweifeln,
daß in Wahrheit nur die wenigsten Menschen lesen können. Damit hängt aber aufs
engste der Mangel an Fähigkeit — oder auch nur an Übung — zu ästhetischem
Verständnis des Autors zusammen. Bei einem richtig erfaßten Leseunterricht wüßten
wir dann nicht nur, was der Autor eigentlich sagen wollte, wir stünden unserem
eignen Sprechen als Schreibende und Lesende anders gegenüber.

Wie ersichtlich ist Knauers Buch voll fruchtbarer Anregungen. Besonders er-
wähnt sei noch der Vergleich von Marmontels Schreibweise mit der Voltaires und
Rousseaus.

Wien. Elise Richter.

Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften. XL und XII. Band. B. G.
Teubner in Leipzig, 1936.

Von diesen beiden stattlichen Bänden kommt der zwölfte der ganzen Reihe für
uns nicht in Betracht, denn er enthält Abhandlungen zur preußischen Geschichte,
unter denen sich höchstens der Aufsatz über Wilhelm von Humboldt mit unserem
Arbeitsgebiet berührt. Immerhin wollen auch wir uns merken, was der Heraus-
geber, Erich Weniger, im Vorbericht sagt: „Die Legende von dem nur ästhetisch
empfindenden, alles verstehenden, vorsichtig zurückhaltenden Dilthey wird beseitigt
durch das Bild, das uns hier entgegentritt". Und ebenso zutreffend ist die Bemer-
kung im Vorwort zum elften Band: die hier gesammelten Jugendaufsätze und Er-
innerungen gewährten „sehr überraschende Einblicke in den ungeheuren Reichtum

4) In Frankreich ist Sprachpflege in diesem Sinne schon in der obersten Mittel-
schulklasse so sehr im Vordergrund, daß sie die „Rhetorique" genannt wird. Und
dabei klagen die Franzosen nicht selten über das Nicht-lesen-können, vgl. Souza, Du
rhythme en Francais 1912. S. 22 ff.
 
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