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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0319
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BESPRECHUNGEN

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zahlreichen anderen als den von Knauer zergliederten Stellen, nicht nur in der lyri-
schen, sondern auch in der wissenschaftlichen Prosa, z. B. in der Poetique2).

Die nächste Forderung, die sich aus Knauers Studie ergibt, ist die Verallgemei-
nerung derartiger Stiluntersuchungen. Wird sich der charakteristische Rhythmus
des Prosaisten so objektiv erweisen lassen wie die dichterische Eigenart, so stehen
wir vor der Aufgabe, den Rhythmus eines ganzen Zeitabschnittes zu ermitteln. Der
Durchschnittstypus — bzw. der Grad der Arhythmie — wird den Untergrund abzu-
geben haben, von dem sich der charakteristische Rhythmus des Einzelnen, die per-
sönliche Note seines Stils, abhebt. So eröffnet Knauers Arbeit ein ganzes Forschungs-
programm: Wie ist der Prosa-Rhythmus und -Klang eines bestimmten Zeitalters
beschaffen? Worin unterscheidet sich die künstlerische Prosa des zu untersuchen-
den Schriftstellers von der seiner Zeitgenossen?

Knauers Methode besteht darin, einzelne charakteristische Stücke des gewählten
Autors in „phonetische Einheiten zwischen zwei Atempausen"3) zu zerlegen, die
Silbenzahl jeder Gruppe zu verzeichnen, die Beziehung zwischen Form und Inhalt
aufzudecken, insofern eine gewisse Regelmäßigkeit der Abweichungen festgestellt
werden kann, nach dem Satze: Ziel und Zweck des Kunstwerkes ist Vermittlung des
Erlebens (S. 6). Es ergibt sich, daß der Achtsilbler der Untergrund ist, aus dem
sich zu besonderer Wirkung längere oder kürzere Glieder abheben. Ohne inneren
Grund keine rhythmische Veränderung. Kein gefühlsmäßiger Inhalt ohne rhythmi-
schen Wechsel. Ganz systematisch, mit Zahlenreihen, wird die größere Schmiegsam-
keit der Prosa nachgewiesen, die — kennzeichnend für die moderne Zeit — von den
theoretisierenden Dichtern so sehr gerühmt wird. Ich erinnere besonders an Claudel,
„Reflexions et propositions sur le vers francais" (Nouvelle Revue Francaise 1925).

Nach dem Silbenrhythmus bespricht Knauer die Klangwirkung. Er gehört
nicht zu den Klangmystikern. Er beobachtet die Verwendung der einzelnen Laute
im Verhältnis zu dem ausgesprochenen Inhalt (S. 48 ff). Hier ist nun allerdings
ein Einwand vorzubringen. „Häufung des /" soll der Absicht einer malenden Wir-
kung entspringen, z. B. La solitude, le silence (S. 76). Das / des Artikels darf
grundsätzlich nicht mitzählen, weil ja der Verfasser in Bezug auf seine Verwendung
gar keine Wahl hat. Das Gleiche gilt für die „Häufung" von v und u etwa in vous
voulez u. ä. (S. 4S). Der Verfasser hat ja keine Möglichkeit, das vous fortzulassen
und auch vouloir ist kaum durch ein anderes Wort zu ersetzen, ohne die Rede ge-
schraubt und schwerflüssig zu machen. Von absichtlicher Klangwirkung kann füg-
lich nur gesprochen werden, wo die Ausdrücke auswechselbar sind. Das ist gewiß
nicht leicht zu entscheiden, denn je näher die Darstellung der Vollendung kommt,
desto mehr haben wir den Eindruck, daß Gedanke und Lautreihe ein für allemal
verschmolzen sind, und jede Umschreibung ergibt eine Verschlechterung. Die Laut-
reihen oder einzelnen Laute aber, die dem Sprachbau als solchem anhaften, wie die
grammatischen Wörter oder die [e] Suffixe des Französischen (—e, —et, —ez, —er,
—ai u. a.) können in Bezug auf künstlerische Klangabsicht eigentlich nur negativ
besprochen werden, wenn sich nämlich beobachten läßt, daß ihre Häufung vermieden,
ihrer Wiederholung in demselben Maße ausgewichen wird, wie der ärmlichen
Wiederholung gleicher Ausdrücke. Es ist also zu unterscheiden: 1. Häufung von
gleichen Lauten, weil der Sprachbau sie nicht umgehen läßt. 2. Häufung in freier
Wahl zu beabsichtigter Klangwirkung. 3. Häufung aus Fahrlässigkeit.

-) Von diesem überhaupt sehr lesenswerten Buche sollte Kap. IV in die Lese-
bücher der obersten Schulklassen aufgenommen werden.

3) Vgl. E. Richter, „Zur Syntax der Inschriften und Aufschriften" (Vox Roma-
nica II) und „Systematik der Sprachbetrachtung" (in Vorbereitung).
 
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