KUNSTERKENNTNIS UND KUNSTVERSTÄNDNIS
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Kirche, ihn besonders hinweist. Wieweit Raffael selbst im Malen von
religiösen, wieweit er nur von ästhetischen Antrieben geleitet war, wissen
wir nicht. Vermutlich bestanden in ihm nebeneinander die christlich-
religiöse wie die irdisch-künstlerische Gefühlswelt, also daß sowohl die
religiöse wie die ästhetische Einstellung des Beschauers sachlich berech-
tigt ist. Danach fragt jedoch der ästhetische Betrachter in der Regel nicht,
sondern er tritt seinerseits mit der spezifischen ästhetischen Einstellung
an das Bild heran, die alle religiöse oder ethische Wertung möglichst aus-
schaltet, ja womöglich als „kunstfremd" zurückweist. Indem er in einem
ganz allgemeinen Sinne das Bild „schön" findet, versteht er dabei den
Schönheitswert des Bildes.
Aber mit dem allgemeinen Verstehen des Bildes als Kunstwerk ist
noch nicht das spezielle Werk verstanden. Auch ein nüchterner Wis-
senschaftler, der das Bild etwa bloß als Kulturdokument ansieht, kann
feststellen, daß es sich um ein Kunstwerk handelt, ohne dabei das
Gemälde als Kunstwerk zu erleben.
Dafür, und damit kommen wir zum ästhetischen Kernerlebnis, ist not-
wendig, daß das Gemüt des Betrachters in Schwingungen gerät, wie
er sie ohne dies Werk nicht erleben könnte. Grob gesprochen: er versteht
das Kunstwerk nur dann, wenn er nicht nur ein allgemeines Schön-
heit s erlebnis, sondern ein ganz charakteristisches, durch die
Qualität just dieses Gemäldes erregtes Schönheitserlebnis hat, das auf
Grund der Gegenständlichkeit wie der Formgebung den Charakter des
Religiösen, Überirdischen, Feierlichen hat.
Ein solches zunächst ziemlich pauschales Gesamtverstehen des Wer-
kes als „schön" drängt sich jedem Menschen, der überhaupt kunstemp-
fänglich ist, ganz unmittelbar auf. Es ist ein sehr komplexes Erleben,
worin rein sensorische Gefühlswirkungen, allgemeine Wertungen von
menschlicher Schönheit, ein unbestimmtes geistiges Formgefühl mit-
schwingen, ohne in der Regel gesondert herauszutreten. Aber schon der
Umstand, daß Gefühle durch die Gegebenheiten ausgelöst werden, daß
die „Schönheit" des Bildes nur unbestimmt erlebt wird, ist ein „Verste-
hen", weil es eine adäquate Reaktion auf das Kunstwerk ist, das auf eine
solche Wirkung angelegt ist. Man fühlt sich von dem Bilde in ganz
bestimmter Richtung „angesprochen", und der Geist „antwortet" seiner-
seits darauf, indem er bei dem Erleben „verweilt", es ausschwingen läßt,
es genießt, d. h. reflektierend bewußt werden läßt. Gegenstand, Form,
Gehalt werden nicht getrennt; es ist ein ganzheitliches Verstehen, bei dem
der ganze Mensch betätigt ist.
Nur um es als ein diesem Bilde gegenüber inadäquates Verhalten auszuschalten,
erwähnen wir das impressionistische Genießen des Kunstwerks, das das Erleben
auf sensuelle Lustgefühle an Farben und Linien zurückführen möchte. Das erwächst
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Kirche, ihn besonders hinweist. Wieweit Raffael selbst im Malen von
religiösen, wieweit er nur von ästhetischen Antrieben geleitet war, wissen
wir nicht. Vermutlich bestanden in ihm nebeneinander die christlich-
religiöse wie die irdisch-künstlerische Gefühlswelt, also daß sowohl die
religiöse wie die ästhetische Einstellung des Beschauers sachlich berech-
tigt ist. Danach fragt jedoch der ästhetische Betrachter in der Regel nicht,
sondern er tritt seinerseits mit der spezifischen ästhetischen Einstellung
an das Bild heran, die alle religiöse oder ethische Wertung möglichst aus-
schaltet, ja womöglich als „kunstfremd" zurückweist. Indem er in einem
ganz allgemeinen Sinne das Bild „schön" findet, versteht er dabei den
Schönheitswert des Bildes.
Aber mit dem allgemeinen Verstehen des Bildes als Kunstwerk ist
noch nicht das spezielle Werk verstanden. Auch ein nüchterner Wis-
senschaftler, der das Bild etwa bloß als Kulturdokument ansieht, kann
feststellen, daß es sich um ein Kunstwerk handelt, ohne dabei das
Gemälde als Kunstwerk zu erleben.
Dafür, und damit kommen wir zum ästhetischen Kernerlebnis, ist not-
wendig, daß das Gemüt des Betrachters in Schwingungen gerät, wie
er sie ohne dies Werk nicht erleben könnte. Grob gesprochen: er versteht
das Kunstwerk nur dann, wenn er nicht nur ein allgemeines Schön-
heit s erlebnis, sondern ein ganz charakteristisches, durch die
Qualität just dieses Gemäldes erregtes Schönheitserlebnis hat, das auf
Grund der Gegenständlichkeit wie der Formgebung den Charakter des
Religiösen, Überirdischen, Feierlichen hat.
Ein solches zunächst ziemlich pauschales Gesamtverstehen des Wer-
kes als „schön" drängt sich jedem Menschen, der überhaupt kunstemp-
fänglich ist, ganz unmittelbar auf. Es ist ein sehr komplexes Erleben,
worin rein sensorische Gefühlswirkungen, allgemeine Wertungen von
menschlicher Schönheit, ein unbestimmtes geistiges Formgefühl mit-
schwingen, ohne in der Regel gesondert herauszutreten. Aber schon der
Umstand, daß Gefühle durch die Gegebenheiten ausgelöst werden, daß
die „Schönheit" des Bildes nur unbestimmt erlebt wird, ist ein „Verste-
hen", weil es eine adäquate Reaktion auf das Kunstwerk ist, das auf eine
solche Wirkung angelegt ist. Man fühlt sich von dem Bilde in ganz
bestimmter Richtung „angesprochen", und der Geist „antwortet" seiner-
seits darauf, indem er bei dem Erleben „verweilt", es ausschwingen läßt,
es genießt, d. h. reflektierend bewußt werden läßt. Gegenstand, Form,
Gehalt werden nicht getrennt; es ist ein ganzheitliches Verstehen, bei dem
der ganze Mensch betätigt ist.
Nur um es als ein diesem Bilde gegenüber inadäquates Verhalten auszuschalten,
erwähnen wir das impressionistische Genießen des Kunstwerks, das das Erleben
auf sensuelle Lustgefühle an Farben und Linien zurückführen möchte. Das erwächst