Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 33.1939

DOI article:
Müller-Freienfels, Richard: Kunsterkenntnis und Kunstverständnis, [2]
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.14216#0312

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
geben wir eine Menge ergänzender Akte hinzu, die von den gegebenen
Farben nur ausgelöst werden. Die Kant'schen Kategorien erschöpfen das
Erleben nicht im entferntesten. Hätten wir nur sie zur Verfügung, also
daß wir etwa das Bild oder die dargestellten Personen unter der Kate-
gorie der „Substantialität" auffaßten, so hätten wir sehr wenig an dem
Bilde erkannt. Zum Erkennen gehören weit speziellere, aposteriorische
Begriffe wie „Madonna", „Heilige", „Engel" etc., die aus unserm Wissen
anschießen, das wir auf Grund unserer kulturellen Bildung parat haben,
das jedoch hinsichtlich dieses Bildes ergänzt werden muß durch das ganz
spezielle Wissen, daß es sich um den hl. Sixtus und die heilige Barbara
handelt, was aus dem Bilde allein überhaupt nicht zu entnehmen ist.

Was nun das Erkennen von Einzelheiten anlangt, so ist auch das nicht
ein passives Hinnehmen von Farbreizen in bestimmter Gestalt, vielmehr
müssen auch die Einzelheiten „erfaßt", d. h. durch spezielle Blickeinstel-
lung herausgehoben werden; ja sie werden zu vollen Erkenntnissen, die
auch mitteilbar sind, erst dann, wenn sie durch Urteile formuliert werden.
Viele Betrachter „sehen" zwar die Farbe der Gewänder, aber dies Sehen
wird ihnen nicht zu Erkenntnis, weil sie es nicht durch Urteile ver-
stärkt haben. Ich habe durch Versuche bei Studenten festgestellt, daß
sie auch nach längerer Darbietung von Bildern die Farben gar nicht
oder nur irrtümlich angaben; diese waren nicht bis zur „Erkenntnis" vor-
gedrungen.

Das rein erkennende Verhalten, wie wir es bisher beschrieben, kann
auch ein ganz kunstfremder Betrachter einnehmen, aber viele der in dies
Erkennen eingehenden Einzelbeobachtungen ebenso wie der Gesamtein-
druck sind auch für das ästhetische Verstehen Voraussetzung.
Aber sie sind nur Voraussetzung, nicht das Wesentliche, das erst
jenseits dieses Erkennens beginnt.

Und zwar ist zunächst notwendig für das ästhetische Erleben, daß
man ganz allgemein versteht, daß man einem Kunstwerk gegenüber-
steht, das heißt einem Bilde, das nicht nur irgendwelchen praktischen
oder religiösen Zwecken dient, sondern das an den Beschauer den An-
spruch stellt, als Kunst gewürdigt zu werden. Bei den meisten heutigen
Betrachtern ist dies allgemeine Verstehen des in dem Gemälde objekti-
vierten „Geistes" als Bestimmung für ästhetische Beschauung sogar so
vorwiegend, daß sie gar nicht daran denken, daß das Bild seiner ur-
sprünglichen Bestimmung nach für das Karthäuserkloster in Piacenza
als Andachtsbild, mindestens zugleich mit der künstlerischen Bestim-
mung, vorgesehen war.

In der Regel also „versteht" der heutige Betrachter Raffaels Ge-
mälde nicht als kultisches, sondern als ästhetisches Werk, wozu dessen
Unterbringung in einem Kunstmuseum, also nicht mehr in Kloster oder
 
Annotationen