DER HUMANISMUS ALS ÄSTHETISCHE IDEE 109
über seinen Büchern den Morgen heranwacht21). Ähnlich nahm Michel-
angelo Gelegenheit, mit ganz primitiven ländlichen Kunsthandwerkern
wie mit seinesgleichen sich abzugeben. Es ist etwas allen Humanisten
Eigenes. Politian setzt in seinem bukolischen Gedicht „Rusticus"22) die
indifferenten Vorgänge auf dem Hühnerhof, bei der Weinlese, den ganzen
Mikrokosmos des bäuerlichen Alltags in Harmonie mit seiner Person.
Um die Gewährung solchen Landlebens bittet er die Götter unter Ver-
zicht auf Kardinalshut und Höheres. Man lese seine Einladung an Mar-
silio Ficino, ihn auf seinem Faesulanum zu besuchen, von dem ganz
Florenz sich überblicken läßt. Ein Stilleben. „Nam saepius e querceto
suo me Picus invisit improvisus obrepens extractumque de latebra secum
ducit ad coenulam, qualem nosti frugi quidem, sed et scitam plenamque
Semper iucundi sermonis et ioci"2S). In diesen Zügen spürt man wirklich
noch heiteres antikes Leben, das die Umgebung des Cicero und Horaz
umrauschte. Offenbar stehen die Humanisten unter dem Einfluß der römi-
schen Dichter, die sie in der Tasche tragen und die sie nach W. v. Hum-
boldts geistreichem Wort moderner empfanden als wir heute. Enea Silvio
Piccolomini löst in einem Brief aus dem österreichischen Landstädtchen
Bruck24) die Horazische Epode „Beatus ille . . ." in Prosa auf und zeigt
am schlagendsten, wie der Humanist Natur und Altertum genoß.
Die Vereinigung von Naturfreude und Antikenbegei-
sterung zu einem ästhetischen Gefühl war eine organische, denn
jene Dichter waren ja die klassischen Natursänger. Die Alten lassen den
Humanisten an den ewigen Atem des Lebens glauben und an den Gleich-
klang von Natur und Kunst. Bei ihnen sucht und findet er immer ein
stilles Asyl; er will sie um sich haben, um an jedem Tag seines Lebens
sie zu hören; er hat die Empfindung, als seien die großen Geister der
Alten persönlich um ihn versammelt und als verkehre er mit ihnen bei
der nächtlichen Lampe wie mit seinesgleichen. Das sind seine Feier-
stunden. Er legt des Abends Kavaliergewänder an, um den Alten ehr-
fürchtig zu nahen. Dieser Aufzug verrät nicht nur den dekorativen Men-
schen, er verrät auch den Ästheten. Ein Ästhetizismus, der noch nicht
zur Sentimentalität umgebogen ist. Denn dazu waren die Ideale nicht
fern genug; sondern fast in das Bewußtsein der Gegenwart hinabgezo-
gen fand sie der Mensch in den Vorgängen seiner Umgebung.
21) Petrarca, F., Epistolae de reb. fam. et variae, ed. Fracassetti, vol. 1—3.
Florentiae 1859—63. IV, 4. XI, 12. XIII, 4. 8. XXI, 12 u. ö.
22) A. Politiani Opp. Bas. 1553, p. 548 ff.
23) A. P. Epistolarum Libri XII. Bas. 1522, p. 394.
24) An Joh. Lauterbach 1444. Enea Silvio Piccolomini Briefe. Übs. v. M. Meli.
Jena 1911. S. 194-97.
über seinen Büchern den Morgen heranwacht21). Ähnlich nahm Michel-
angelo Gelegenheit, mit ganz primitiven ländlichen Kunsthandwerkern
wie mit seinesgleichen sich abzugeben. Es ist etwas allen Humanisten
Eigenes. Politian setzt in seinem bukolischen Gedicht „Rusticus"22) die
indifferenten Vorgänge auf dem Hühnerhof, bei der Weinlese, den ganzen
Mikrokosmos des bäuerlichen Alltags in Harmonie mit seiner Person.
Um die Gewährung solchen Landlebens bittet er die Götter unter Ver-
zicht auf Kardinalshut und Höheres. Man lese seine Einladung an Mar-
silio Ficino, ihn auf seinem Faesulanum zu besuchen, von dem ganz
Florenz sich überblicken läßt. Ein Stilleben. „Nam saepius e querceto
suo me Picus invisit improvisus obrepens extractumque de latebra secum
ducit ad coenulam, qualem nosti frugi quidem, sed et scitam plenamque
Semper iucundi sermonis et ioci"2S). In diesen Zügen spürt man wirklich
noch heiteres antikes Leben, das die Umgebung des Cicero und Horaz
umrauschte. Offenbar stehen die Humanisten unter dem Einfluß der römi-
schen Dichter, die sie in der Tasche tragen und die sie nach W. v. Hum-
boldts geistreichem Wort moderner empfanden als wir heute. Enea Silvio
Piccolomini löst in einem Brief aus dem österreichischen Landstädtchen
Bruck24) die Horazische Epode „Beatus ille . . ." in Prosa auf und zeigt
am schlagendsten, wie der Humanist Natur und Altertum genoß.
Die Vereinigung von Naturfreude und Antikenbegei-
sterung zu einem ästhetischen Gefühl war eine organische, denn
jene Dichter waren ja die klassischen Natursänger. Die Alten lassen den
Humanisten an den ewigen Atem des Lebens glauben und an den Gleich-
klang von Natur und Kunst. Bei ihnen sucht und findet er immer ein
stilles Asyl; er will sie um sich haben, um an jedem Tag seines Lebens
sie zu hören; er hat die Empfindung, als seien die großen Geister der
Alten persönlich um ihn versammelt und als verkehre er mit ihnen bei
der nächtlichen Lampe wie mit seinesgleichen. Das sind seine Feier-
stunden. Er legt des Abends Kavaliergewänder an, um den Alten ehr-
fürchtig zu nahen. Dieser Aufzug verrät nicht nur den dekorativen Men-
schen, er verrät auch den Ästheten. Ein Ästhetizismus, der noch nicht
zur Sentimentalität umgebogen ist. Denn dazu waren die Ideale nicht
fern genug; sondern fast in das Bewußtsein der Gegenwart hinabgezo-
gen fand sie der Mensch in den Vorgängen seiner Umgebung.
21) Petrarca, F., Epistolae de reb. fam. et variae, ed. Fracassetti, vol. 1—3.
Florentiae 1859—63. IV, 4. XI, 12. XIII, 4. 8. XXI, 12 u. ö.
22) A. Politiani Opp. Bas. 1553, p. 548 ff.
23) A. P. Epistolarum Libri XII. Bas. 1522, p. 394.
24) An Joh. Lauterbach 1444. Enea Silvio Piccolomini Briefe. Übs. v. M. Meli.
Jena 1911. S. 194-97.