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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 36.1942

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Roretz, Karl von: Zur Psychologie und Ästhetik der Reimfindung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14218#0096
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KARL VON RORETZ

licher Assoziationen, überhaupt die Behendigkeit, mit der die Kranken die
Klaviatur ihres Vorstellungskreises handhaben, das Entstehen von allerlei
zuweilen gar nicht üblen Witzen, Verslein und Apercus..."; und J. Lange,
Abschn. „Manie" in: Handb. d. Geisteskrankheiten, hrsg. v. O. Bumke,
Bd. 6, II, S. 89: „In diesem Stadium sind Wortspiele, Reimereien... Wort-
stammassoziationen, Alliterationen an der Tagesordnung"). — Diese Reim-
quelle fließt rasch und reich. Ein „Suchen", „Probieren", „Verwerfen" ist
für diese Patienten, ihrer ganzen Seelenverfassung nach, so gut wie aus-
geschlossen, daher wohl auch, im allgemeinen, der Gebrauch komplizierterer
Metren oder Reimformen. (Dafür finden sich öfters kindliche, stabreim-
ähnliche Gebilde, wie z. B. bei einem Patienten Krafft-Ebings: „Flug,
Fliege, Fleck... Fisch, Fischerl, Haifisch...)

Auch bei der Schizophrenie gibt es gelegentlich Reimereien, bes.
bei den paranoiden Fällen dieser Gruppe. — Die Reime aus der letzten
Lebenszeit Hölderlins (Spätform der Schizophrenie!) verraten z. T. noch
die Meisterhand des großen Lyrikers, tragen anderseits ein eigentümliches
„Etwas" an sich, das eine gewisse Leere des Klangbildes („genossen —
verflossen; ferne — gerne...") und der ganzen Diktion mit einer gewissen
gemüthaften Entrücktheit unheimlich paart.

Vielleicht darf hier noch als markantes Beispiel aus dem psychopatho-
logischen Grenzgebiet die erste Strophe aus dem Sonett eines altöster-
reichischen Irrenpfleglings (Paranoiker?) angeführt werden:
„Dann sterben sie in weißgetünchten Zellen
noch einmal, da sie einmal schon gestorben,
so wie die reife Frucht, die früh verdorben,
auch noch vom Baume stürzt, um zu zerschellen."
(Man beachte die wirkungsvollen, gleichsam gongartig dröhnenden
Reime der Anfangs- und Endzeile, welche die dumpfbröckeligen Mittel-
zeilen mächtig umrahmen. Die ganze verzweifelte Stimmung des inter-
nierten Geisteskranken hat hier auch phonetisch einen ziemlich reinen
Ausdruck gefunden. — Übrigens weist dieses lyrische Produkt zu dem
aus ganz ähnlichen seelischen Verhältnissen herausgewachsenen vor-
letzten Gedichte N. L e n a u s, „'S ist eitel nichts, wohin mein Aug' ich
hefte" eine überraschende, formal-sprachliche Analogie auf!... Ob hier
eine unbewußte Anlehnung vorliegt?)

Unter den reimfördernden toxischen Erregungen kämen selbstverständ-
lich vor allem jene auf Basis der akuten Alkoholintoxikation in Frage.
Natürlich ist auch hier die Reimfindung fast ausnahmslos auf das Gebiet
des rasch und mühelos Erhaschbaren eingeschränkt. — Einen ganz illu-
stren Fall aus der deutschen Literaturgeschichte, der doch wohl in diesen
Zusammenhang gehört, bietet uns Mörikes humorvoll gebrachtes Gedicht-
 
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