ZUR PSYCHOLOGIE UND ÄSTHETIK DER REIMFINDUNO 91
Besonders eindrucksvoll zeigt sich das Verhältnis von Sinn: Reim in
dem bewußten Aufgeben eines bereits gewählten Reimwortes oder Klang-
bildes. — Auch die bedeutendsten und gewandtesten, originalen Reim-
Versdichter sehen sich öfters vor diese Notwendigkeit gestellt, gar nicht
zu reden von den Erfahrungen (auch geübter!) Übersetzer, die, wenig-
stens bei mehrfach gereimten Versen, häufig nicht umhin können, das be-
reits in Aussicht genommene Reimwort wieder fallen zu lassen, weil sonst
das entsprechende Reimecho in Frage gestellt oder auch die ganze Vers-
struktur in ihrer Existenz bedroht wäre.
R. M. Werner (Lyrik und Lyriker, S. 571 ff.) hat eine ganze Reihe
von Beispielen aus den Werken hervorragender deutscher Schriftsteller
angeführt, die solchen, verschieden tief reichenden Veränderungen der ur-
sprünglichen Reimfindung stattgaben. Sogar das gewaltige Gedicht
Mörikes „An einem Wintermorgen" ist, mit seiner ersten Verszeile, hier
vertreten.
Ganz analog, und sehr charakteristisch, lautet die Erklärung Jos. Wein-
hebers zu diesem Punkt: „Es kommt schon mitunter vor, daß ich ein ge-
wähltes Reimwort wieder aufgebe; einen Augenblick erschien es mir rich-
tig, am nächsten Tag blaß. Dann grüble ich mit Willen so lange, bis
meine Vorstellung und mein Gefühl durch den Vers gedeckt erscheinen."
— Der zweite Satz formuliert ganz ausgezeichnet den Prozeß des Ein-
wirkens der sinnhaften Funktion auf die Reimfindung!
Die naheliegende Frage, ob jene Änderungen nicht vielleicht doch
letzten Endes öfter der reinen Euphonie zuliebe denn aus Gründen des
gedanklichen oder stimmungsmäßigen Zusammenhanges stattfinden, läßt
sich ganz allgemein schwerlich beantworten. Es mag auch da individuelle
Differenzen geben. Sehr schätzenswert wären ausgiebige, womöglich stati-
stisch geordnete Angaben über die konkreten Erfahrungen eifriger und
geschickter Übersetzer bei ihrer Tätigkeit. Sie liegen noch nicht vor!
— An diesem Punkt unserer Ausführungen angelangt, dürfen wir viel-
leicht der Betrachtung eine gewisse Drehung geben und unseren früheren
Gesichtswinkel, der hauptsächlich ein psychologisch-deskriptiver war, mit
dem eigentlich axiologischen vertauschen, der die Wertfrage, die uns frei-
lich schon immer gleichsam „über die Schulter guckte", nunmehr mit
voller Absicht in den Vordergrund rückt.
Wir dürfen somit hier vielleicht folgende Fragen stellen:
Erstens. Welche werthaft-ästhetischen Wirkungen lassen sich von
Reimfindung und Reimwerdung allgemein-psychologisch erwarten?
Zweitens. Nach welchen Kriterien pflegen wir im Einzelfall die
Wohlgefälligkeit und Wirksamkeit der gefundenen Reime zu bemessen?
Drittens. Was ergibt sich daraus für die ganze Stellung des Reimes
Besonders eindrucksvoll zeigt sich das Verhältnis von Sinn: Reim in
dem bewußten Aufgeben eines bereits gewählten Reimwortes oder Klang-
bildes. — Auch die bedeutendsten und gewandtesten, originalen Reim-
Versdichter sehen sich öfters vor diese Notwendigkeit gestellt, gar nicht
zu reden von den Erfahrungen (auch geübter!) Übersetzer, die, wenig-
stens bei mehrfach gereimten Versen, häufig nicht umhin können, das be-
reits in Aussicht genommene Reimwort wieder fallen zu lassen, weil sonst
das entsprechende Reimecho in Frage gestellt oder auch die ganze Vers-
struktur in ihrer Existenz bedroht wäre.
R. M. Werner (Lyrik und Lyriker, S. 571 ff.) hat eine ganze Reihe
von Beispielen aus den Werken hervorragender deutscher Schriftsteller
angeführt, die solchen, verschieden tief reichenden Veränderungen der ur-
sprünglichen Reimfindung stattgaben. Sogar das gewaltige Gedicht
Mörikes „An einem Wintermorgen" ist, mit seiner ersten Verszeile, hier
vertreten.
Ganz analog, und sehr charakteristisch, lautet die Erklärung Jos. Wein-
hebers zu diesem Punkt: „Es kommt schon mitunter vor, daß ich ein ge-
wähltes Reimwort wieder aufgebe; einen Augenblick erschien es mir rich-
tig, am nächsten Tag blaß. Dann grüble ich mit Willen so lange, bis
meine Vorstellung und mein Gefühl durch den Vers gedeckt erscheinen."
— Der zweite Satz formuliert ganz ausgezeichnet den Prozeß des Ein-
wirkens der sinnhaften Funktion auf die Reimfindung!
Die naheliegende Frage, ob jene Änderungen nicht vielleicht doch
letzten Endes öfter der reinen Euphonie zuliebe denn aus Gründen des
gedanklichen oder stimmungsmäßigen Zusammenhanges stattfinden, läßt
sich ganz allgemein schwerlich beantworten. Es mag auch da individuelle
Differenzen geben. Sehr schätzenswert wären ausgiebige, womöglich stati-
stisch geordnete Angaben über die konkreten Erfahrungen eifriger und
geschickter Übersetzer bei ihrer Tätigkeit. Sie liegen noch nicht vor!
— An diesem Punkt unserer Ausführungen angelangt, dürfen wir viel-
leicht der Betrachtung eine gewisse Drehung geben und unseren früheren
Gesichtswinkel, der hauptsächlich ein psychologisch-deskriptiver war, mit
dem eigentlich axiologischen vertauschen, der die Wertfrage, die uns frei-
lich schon immer gleichsam „über die Schulter guckte", nunmehr mit
voller Absicht in den Vordergrund rückt.
Wir dürfen somit hier vielleicht folgende Fragen stellen:
Erstens. Welche werthaft-ästhetischen Wirkungen lassen sich von
Reimfindung und Reimwerdung allgemein-psychologisch erwarten?
Zweitens. Nach welchen Kriterien pflegen wir im Einzelfall die
Wohlgefälligkeit und Wirksamkeit der gefundenen Reime zu bemessen?
Drittens. Was ergibt sich daraus für die ganze Stellung des Reimes