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1892. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST _ Nr. 8.
24.0
zösischen Kirchen wiederkehrt. Von der an
der Spitze dieser Periode der Plastik stehenden
Schöpfung in Paris gehen aber die Fäden nicht
nur nach Nordosten, sondern auch in entgegen-
gesetzter Richtung nach Südwesten, nach Chartres.
Paris gab hier nur zurück, was es in einer voran-
gegangenen Periode von dort empfangen hatte.
Es sind die berühmten Seitenportale des nach
dem Brande von 1194 durch Bischof Regnault
de Mougon begonnenen Neubaues, die hier in
Betracht kommen. Sie wurden fast gleichzeitig
mit der Fassade von Amiens in den Jahren 1230
bis 1240 vollendet;18) die vorseitig abgedruckte
Abbildung (Fig. 3) zeigt das Tympanon des
Mittelportals vom südlichen Querarme. Es stellt
das jüngste Gericht dar. In der Mitte des oberen
Streifens thront Christus en face, beide Hände
flach erhoben, neben ihm Maria und Johannes,
die Hände mit einer Geberde des Fürbittens
flach aneinander legend, in den Ecken zwei
Engel mit den Kreuzigungs-Werkzeugen. Drei
weitere mit den übrigen Instrumenten der Passion
schweben frei in der Luft. Auf dem unteren
Streifen steht in der Mitte der Erzengel Michael
mit der Wage, in deren einer Schale die arme
zitternde Seele hockt, während die andere von
Teufeln herniedergezogen wird. Zur Linken
werden die Erlösten nach dem Himmel geleitet,
zur Rechten die Verdammten nach der Hölle
geführt. Ganz auffällig ist hier auch in der an
und für sich lebhaftere Bewegungen fordernden
Darstellung der Verdammten die feierliche, fast
erstarrte Ruhe. Langsam schreiten die Ver-
urteilten dem Höllenrachen entgegen, dieHände
krampfhaft verschränkend — die Bewegung ist
nur ganz wenig verschieden von der anbetenden
Geste der Erlösten auf der linken Seite. Die
Symmetrie ist so im ganzen Tympanon bis zum
Aeufsersten bewahrt. Der Typus der Köpfe, die
Behandlung von Haar und Bart, vor allem auch
die grofsartige Behandlung der Gewandung ist
dieselbe wie bei den Figuren von Paris — die
Falten, deren Kämme durchweg leicht abge-
bröckelt sind, erscheinen nur dadurch etwas
18) Abbildung bei Chapuy »Cathedrales francaises«
pl. 8. — Adams »Recueil de sculptures gothiques
d'apves les plus beaux monuments construits en France
depuis le XI jusqu'au XVC siecle« I, pl. 4. — Lassus
»Monographie de la cathedrale de Chartres« pl. 26,
28, 39, 40.
knittriger als in Paris. Bezeichnend für diese
Skulpturen von Chartres ist das überaus ein-
fache Arrangement der faltigen Mäntel, die in
dichten, aber nie kleinlichen Parallelfalten dem
Schwünge der Glieder folgen, die nur leicht
am Knie, an den Schultern durchmodellirt sind.
Die berühmten Figuren vom Nordportal und
der nördlichen Vorhalle in Chartres19) finden
gleichfalls Parallelen in Amiens, aufserdem auch
an der Fassade von St. Remi in Reims.
Die Schaar der Bildhauer, die in der ersten
Hälfte des XIII. Jahrh. in Amiens weilte, hat
aber als Zeugnifs ihrer Kunstfertigkeit auch noch
zwei Werke des Bronzegusses hinterlassen, von
besonderer Wichtigkeit, weil sie die einzigen
frühen Bronzegrabmäler sind, die den Revolu-
tionssturm von 1789 überdauert haben, neben
dem Grabmal der Kinder von Saint-Louis in
St. Denis. Es sind die Grabstätten der Bau-
herren der Kathedrale, des 1222 verstorbenen
Bischofs Evrard de Fouilly und des 1237 ver-
storbenen Geoffroy d'Eu,20) beide von je sechs
Löwen getragen und bewunderungswürdig durch-
geführt, am besten das des Evrard mit den
Engelsfiguren zur Seite.
Die Portale von Paris, Amiens und Char-
tres stellen zusammen den Höhepunkt dieser
ersten glänzenden Blüthe-Periode der französi-
schen Skulptur in Nordfrankreich dar — Reims
tritt mit einem abweichenden Stil zur Seite. Ihr
Hauptcharakterzug ist feierliche Würde und ge-
tragener Ernst. Erst der Feuergeist der Cham-
pagne brachte das Element des Lebhaften und
Lieblichen hinzu. Und diese Werke in ihrer
grofsartigen Monumentalität enstanden 200 Jahre
vor Donatello.
Bonn. Paul Clernen.
19) Viollet-le-Duc »Dictionnaire raisonne de
l'architecture frangaise« VIII, p. 256; IV, p. 61. (Vergl.
»Sur les statues tombales en metal«, Bulletin monu-
mental XXI, p. 451).)
20) Gilbert p. 126. — Ruskin p. 25. Abgufs
Nr. 118 und 119 im Museum des Trocadero. Genaue
Beschreibung im »Catalogue« vom Jahre 1883 p. 18.
Abbildung der Köpfe besonders bei Rigollot in den
»Memoires de la Picardie« III, p. 387, des zweiten
Grabmals bei Chapuy »Cathedrales francaises«,
3. Lief., Taf. 8.
Das Gewand scheint aus feinstem leichten Wollen-
stoff zu bestehen, der sich jeder Bewegung anschmiegt,
während die Figuren von Amiens in schwere, filzartige
Brokatgewänder gehüllt sind.
1892. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST _ Nr. 8.
24.0
zösischen Kirchen wiederkehrt. Von der an
der Spitze dieser Periode der Plastik stehenden
Schöpfung in Paris gehen aber die Fäden nicht
nur nach Nordosten, sondern auch in entgegen-
gesetzter Richtung nach Südwesten, nach Chartres.
Paris gab hier nur zurück, was es in einer voran-
gegangenen Periode von dort empfangen hatte.
Es sind die berühmten Seitenportale des nach
dem Brande von 1194 durch Bischof Regnault
de Mougon begonnenen Neubaues, die hier in
Betracht kommen. Sie wurden fast gleichzeitig
mit der Fassade von Amiens in den Jahren 1230
bis 1240 vollendet;18) die vorseitig abgedruckte
Abbildung (Fig. 3) zeigt das Tympanon des
Mittelportals vom südlichen Querarme. Es stellt
das jüngste Gericht dar. In der Mitte des oberen
Streifens thront Christus en face, beide Hände
flach erhoben, neben ihm Maria und Johannes,
die Hände mit einer Geberde des Fürbittens
flach aneinander legend, in den Ecken zwei
Engel mit den Kreuzigungs-Werkzeugen. Drei
weitere mit den übrigen Instrumenten der Passion
schweben frei in der Luft. Auf dem unteren
Streifen steht in der Mitte der Erzengel Michael
mit der Wage, in deren einer Schale die arme
zitternde Seele hockt, während die andere von
Teufeln herniedergezogen wird. Zur Linken
werden die Erlösten nach dem Himmel geleitet,
zur Rechten die Verdammten nach der Hölle
geführt. Ganz auffällig ist hier auch in der an
und für sich lebhaftere Bewegungen fordernden
Darstellung der Verdammten die feierliche, fast
erstarrte Ruhe. Langsam schreiten die Ver-
urteilten dem Höllenrachen entgegen, dieHände
krampfhaft verschränkend — die Bewegung ist
nur ganz wenig verschieden von der anbetenden
Geste der Erlösten auf der linken Seite. Die
Symmetrie ist so im ganzen Tympanon bis zum
Aeufsersten bewahrt. Der Typus der Köpfe, die
Behandlung von Haar und Bart, vor allem auch
die grofsartige Behandlung der Gewandung ist
dieselbe wie bei den Figuren von Paris — die
Falten, deren Kämme durchweg leicht abge-
bröckelt sind, erscheinen nur dadurch etwas
18) Abbildung bei Chapuy »Cathedrales francaises«
pl. 8. — Adams »Recueil de sculptures gothiques
d'apves les plus beaux monuments construits en France
depuis le XI jusqu'au XVC siecle« I, pl. 4. — Lassus
»Monographie de la cathedrale de Chartres« pl. 26,
28, 39, 40.
knittriger als in Paris. Bezeichnend für diese
Skulpturen von Chartres ist das überaus ein-
fache Arrangement der faltigen Mäntel, die in
dichten, aber nie kleinlichen Parallelfalten dem
Schwünge der Glieder folgen, die nur leicht
am Knie, an den Schultern durchmodellirt sind.
Die berühmten Figuren vom Nordportal und
der nördlichen Vorhalle in Chartres19) finden
gleichfalls Parallelen in Amiens, aufserdem auch
an der Fassade von St. Remi in Reims.
Die Schaar der Bildhauer, die in der ersten
Hälfte des XIII. Jahrh. in Amiens weilte, hat
aber als Zeugnifs ihrer Kunstfertigkeit auch noch
zwei Werke des Bronzegusses hinterlassen, von
besonderer Wichtigkeit, weil sie die einzigen
frühen Bronzegrabmäler sind, die den Revolu-
tionssturm von 1789 überdauert haben, neben
dem Grabmal der Kinder von Saint-Louis in
St. Denis. Es sind die Grabstätten der Bau-
herren der Kathedrale, des 1222 verstorbenen
Bischofs Evrard de Fouilly und des 1237 ver-
storbenen Geoffroy d'Eu,20) beide von je sechs
Löwen getragen und bewunderungswürdig durch-
geführt, am besten das des Evrard mit den
Engelsfiguren zur Seite.
Die Portale von Paris, Amiens und Char-
tres stellen zusammen den Höhepunkt dieser
ersten glänzenden Blüthe-Periode der französi-
schen Skulptur in Nordfrankreich dar — Reims
tritt mit einem abweichenden Stil zur Seite. Ihr
Hauptcharakterzug ist feierliche Würde und ge-
tragener Ernst. Erst der Feuergeist der Cham-
pagne brachte das Element des Lebhaften und
Lieblichen hinzu. Und diese Werke in ihrer
grofsartigen Monumentalität enstanden 200 Jahre
vor Donatello.
Bonn. Paul Clernen.
19) Viollet-le-Duc »Dictionnaire raisonne de
l'architecture frangaise« VIII, p. 256; IV, p. 61. (Vergl.
»Sur les statues tombales en metal«, Bulletin monu-
mental XXI, p. 451).)
20) Gilbert p. 126. — Ruskin p. 25. Abgufs
Nr. 118 und 119 im Museum des Trocadero. Genaue
Beschreibung im »Catalogue« vom Jahre 1883 p. 18.
Abbildung der Köpfe besonders bei Rigollot in den
»Memoires de la Picardie« III, p. 387, des zweiten
Grabmals bei Chapuy »Cathedrales francaises«,
3. Lief., Taf. 8.
Das Gewand scheint aus feinstem leichten Wollen-
stoff zu bestehen, der sich jeder Bewegung anschmiegt,
während die Figuren von Amiens in schwere, filzartige
Brokatgewänder gehüllt sind.