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Zeitschrift für christliche Kunst — 16.1903

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Braun, Joseph: Das Rationale
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https://doi.org/10.11588/diglit.4075#0079
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121

!903. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.

122

Erhalten haben sich solche noch an dem Ratio-
nale zu Regensburg und Eichstätt.

Über den Ursprung des Rationales im Sinne
eines Schulterschmuckes hat man verschiedene
Hypothesen aufgestellt. Nach Wilpert wäre es
herzuleiten von dem aus zwei auf den Achseln
angebrachten Scheiben und zwei von den
Schultern bis über die Brust sich herabziehen-
den Streifen bestehenden Besatz, den wir vom
III. Jahrh. an bis ins XL nicht selten auf den
Monumenten an der Tunika antreffen.49) Es
soll sich diese Verzierung, zu der oft noch eine
den Kopfdurchlafs verzierende Borte kam, im
Mittelalter losgelöst haben und als selbständiger
Schulterschmuck zu einem Distinctivum kirch-
licher Dignitäre geworden sein. Dieser Mei-
nung widerspricht indessen, dafs wir den Besatz
nur bei der Tunika, nicht aber auch bei der Pla-
neta (Casel) antreffen. Wie soll also fragen wir
wohl nicht mit Unrecht, das von der Tunika los-
gelöste Ornament den Charakter eines über der
Kasel angelegten selbständigen Gewandes er-
langt haben? Aufserdem ist das Rationale nur
in Deutschland und den angrenzenden Teilen
von Deutschland in Gebrauch gewesen, hier
aber hat man den fraglichen Besatz der Tunika
nicht gekannt. Endlich stimmt die Wilpertsche
Ansicht nicht mit dem, was die Monumente
uns von der anfänglichen Form des Ornatstückes
und seiner Entwicklung zu erzählen wissen.

Rohault de Fleury50} verwechselt das Ra-
tionale bezw. Superhumerale mit der breiten
kragenartigen Verzierung, welche wir nicht selten
auf Bildwerken des XII. und XIII. Jahrh. den
Kopfdurchschlupf der Kasel umgeben sehen.
Dafs das Mefsgewand eine solche Ausstattung
bisweilen bekommen haben mag, soll nicht in
Abrede gestellt werden, wiewohl diese nicht
selten bizarre Einfassung auf den bildlichen
Darstellungen meistens der Phantasie des Künst-
lers entsprungen sein dürfte. Wir treffen eine
solche Verzierung nicht blofs bei der Kasel an,
wir finden sie auch bei der Dalmatik und Tuni-
cella, ja oft genug bei Laien, Männern wie
Frauen. Die Künstler des XII. und XIII. Jahrh.
waren sehr dekorationslustige Leute, denen es
eine Freude war, die von ihnen auf Pergament
oder auf die Wand gemalten Heiligenfiguren
recht glänzend auszuschmücken.

49) Un capitolo di storia del vestiario p. 26, nota 1.
60) La messe VIII, p. 70, svtei.

Man beachte auch, wie dieser kragenartige
Besatz des Mefsgewandes niemals als Besonder-
heit eines bestimmten Bischofs erscheint. Er
kommt allenthalben auf den Bildwerken vor,
auf französischen wie englischen, deutschen wie
italienischen Monumenten. Er ist häufig genug
von ganz willkürlichen Formen. Geradezu
phantastisch und barock ist er beim Bilde des
hl. Nikolaus in der St. Nikolauskapelle zu Soest,
eine Darstellung des Rationales, wie man wohl
gewollt, ist er aber auch hier nicht.

Barbier de Montault hielt das Rationale für
identisch mit dem zum Ornat des Papstes ge-
hörenden Fanon.51) Er übersieht jedoch, dafs
dieser Fanon im Grund nichts anderes ist, als
der gewöhnliche Amict, dafs derselbe im XII.
und XIII., ja XIV. Jahrh. noch ein wirklicher
Amict war, der freilich statt unter der Albe,
über derselben getragen wurde, dafs er noch
gegen Ende des Mittelalters ein förmliches Tuch
darstellte und erst zu einer Art von Schulter-
kragen wurde, als das gewöhnliche Humerale
in die Pontifikalkleidung des Papstes Aufnahme
erhielt. Ebenso läfst Barbier de Montault ganz
aufser acht, dafs das Rationale schon in seiner
ältesten Gestalt mit dem Fanon keinerlei Ähn-
lichkeit hatte, sondern als ein ganz eigen-
artiger Schmuck auftritt, mag es nun als ein
dem Pallium formverwandtes Ornatstück, oder,
wie zu Bamberg, als eine Art Schultergewand
erscheinen.

Bock unterscheidet im Anschlufs an Ma-
billon zwischen dem römischen und dem galli-
kanischen Pallium, und glaubt, das letztere in
dem Rationale wiederfinden zu sollen.52) Auch
diese Ansicht ist unhaltbar. Das gallikanische
Pallium ist, wie es scheint, nur eine Fiktion,
entstanden durch ein Mifsverständnis des Can. 6
des Konzils von Macon, welcher den Bischöfen
verbietet, ohne Pallium die Messe zu lesen, und
der Angabe, welche die gallikanische Mefs-
erklärung über ein zur liturgischen Kleidung
gehörendes Pallium macht. Ein dem römi-
schen Pallium koordiniertes pontifikales Ornat-
stück hat es in der gallikanischen Kirche schwer-
lich gegeben. Wenn aber doch, so hat das
Ornatstück die karolingische Reform, welche

61) Über den päpstlichen Fanonvergl. Braun »Die
pontifikalen Gewänder« S. 175 ff.

M) »Geschichte der liturgischen Gewänder« Bd. II,
S. 195. Mabillon »Ouvrages posthumes« (Paris
1724) I, 454.
 
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