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Zeitschrift für christliche Kunst — 33.1920

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Witte, Fritz: Mystik und Kreuzesbild um 1300
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https://doi.org/10.11588/diglit.4307#0135
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ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST. Nr. 9/10

und Formsprache vor: Der von Maria im Kapitol, der von Andernach
und von Gehrden10. Die beiden ersteren steigern den Realismus bis zu
einem wilden Ausbruch des Schmerzes, der Körper lehnt sich vornüber,
das Antlitz ist verzerrt, die Gliedmaßen sind zerschunden und verrenkt,
Eiterbeulen bedecken den Leib, Blut überströmt den großgebildeten Kopf.
Der Konservatismus der niedersächsischen Kunst jener Zeit beläßt dagegen
dem Gehrdener Kreuz einen Rest von Hoheit und Würde, etwas mildes
trotz der Betonung des Qualvollen im voraufgegangenen Leid. Unvergleich-
lich wirkungsvoll ist dieser Kruzifixus, ein Glanzstück mittelalterlicher Aus-
druckskunst. Wie die Darstellung der Auswirkungen eines erbarmungslosen
Schicksales muten die von Andernach und Köln an, wie ein lauter unge-
bändigter Schmerzensschrei. Der Kruzifixus von Gehrden dagegen erhebt
wie in einer gewaltigen Rednergeste seine kraftvollen Arme und die segnend
entfalteten Hände; er schwingt sie aufwärtsweisend empor und läßt die
Bewegung wirkungsvoll immer wieder zurückführen über die geschwungenen
Äste des Kreuzesbaumes zum Körper selbst, auf Kopf und klaffende Seiten-
wunde. Unnachahmlich geradezu ist diese Kompositionshnie von Armen des
Kreuzes und des Körpers, ein großes, wirkungsvolles Oval bildend, das
immer wieder die Bewegung der rhetorischen Geste aufnimmt und wieder-
holt. Wie ein Strahl von oben kommenden Erlösungshchtes hegt es auf
diesem Kopfe trotz allem Realismus, während bei dem Kölner und dem
Andernacher Kreuz allein das tragische Verhängnis zu Worte kommt. Alles
Lineare am Kruzifix in Gehrden redet die gleiche Sprache: in die Richtung
der predigend erhobenen Arme drängen die Ovale der Lendentuchghederung
mit dem gegensätzlich wirkenden Abschluß des Brustkorbes, ebenso die
Halsgrube, in welche der Kopf müde und tot zu versinken droht. Die fast
gewaltigen Arme, viel zu lang und zu stark gebildet, in ihrer Linienführung
den Blick auf das Antlitz zwingend, tragen einen kurzen, gedrungenen, an
den Unterschenkeln fast verkümmert klein modellierten Körper, dadurch in
ihrer Geste noch zwingender und dramatischer werdend. Das Prachtstück
hat den Vorzug eines völlig intakten Zustandes; spätere Zutat sind nur die
Zehenspitzen des rechten Fußes.

Wollen wir an die zeitliche Festlegung der hier angezogenen Kruzifixe
herantreten, so werden wir •dem von Lage den Vorzug des höchsten Alters
zuerkennen müssen. Das Legendarische, das sich an dieses knüpft, versetzt
es in eben die Zeit, wohin es gehört, in das ausgehende XIII. Jahrh. Auf
eine Wiedergabe der Legende können wir hier verzichten. Es steht noch
völlig unter dem Einfluß spätromanischen Kunstwillens und kleidet das
Realistische der Auffassung in die typische Stilisierung der zweiten Hälfte
des XIII. Jahrh. Vor allem das Gefältel des Tuches, die walzenförmige
Bildung des Oberkörpers, das Schematische des Brustkorbes, das noch deut-
lichst an die Bronzekreuze der ersten Hälfte des Jahrhunderts erinnert, die
jedem Naturalismus abholde Formung der Ohren, das Aufgerollte des Bart-

10 Die ganz hervorragenden Abbildungen der Kruzifixe von Lage und Gehrden ver-
danke ich dem um die künstlerische Aufnahme heimatlicher Kunstdenkmäler hochverdienten
Herrn Photographen Lichtenberg in Osnabrück, dem ich an dieser Stelle meinen herz-
lichen Dank ausspreche.
 
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