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KAPITEL I
Leonardos einen zentralen Platz in jener Tafel, die »verschiedene Grade der
Abtragung des kosmischen Systems auf den Menschen« veranschaulicht, doch
gleichzeitig akzeptierte er die Feststellung des weniger philosophisch
veranlagten Fritz Saxl, daß die Zeichnung Leonardos kein »Mikrokos-
mosmännchen«, sondern eine Proportionsstudie sei; unter das Manuskript von
Saxls Vortrag über den Makrokosmos und Mikrokosmos in mittelalterlichen
Bildern schrieb Warburg die Bemerkung: »Ganz famos«.40
4. Architectural Principles
In seinen Architectural Principles in the Age of Humanism von 1949 vollzog
Wittkower eine gegenüber Warburg und Saxl entscheidende Wendung, denn er
betonte nun den symbolischen Wert des homo vitruvianus, ohne seine historisch
zurückliegende, konkrete Bedeutung bei den einzelnen Autoren analysiert zu
haben:
Mit der Wiederbelebung der griechischen mathematischen Interpretation von Gott
und der Welt in der Renaissance und bestärkt durch den christlichen Glauben, daß
der Mensch als das Ebenbild Gottes die Harmonien des Universums verkörpere,
wurde die in Kreis und Quadrat eingeschriebene Vitruvische Figur zu einem
Symbol der mathematischen Sympathie zwischen Mikrokosmos und Makro-
kosmos.41
Vitruvs Proportionsfigur war für Wittkower damit zu einem Bild geworden,
dessen symbolische Kraft für Architekten der Renaissance beinahe unaus-
weichlich gewesen sei:
Dieses einfache Bild schien eine tiefe und grundlegende Wahrheit über Mensch
und Welt zu enthüllen, und seine Wichtigkeit (importance) für Renaissance-
architekten kann kaum überschätzt werden. Die Darstellung verfolgte ihre Vorstel-
lungskraft.42
Wittkower hatte mit dieser Formulierung Vitruvs Proportionsfigur von War-
burgs erkenntnistheoretisch motivierter Symbolsetzung auf die Vorstel-
lungskraft jener Künstler, Architekten und Theoretiker des 15. und 16. Jahr-
hunderts zurückprojiziert, deren Aussagen zu Vitruvs homo ad quadratum und
homo ad circulum er gleichzeitig unter einem beinahe ausschließlich
symbolischen Gesichtspunkt interpretierte. Eine bildliche Darstellung,
verstanden als ein Symbol, das eine möglicherweise allgemein verbreitete
Architekturauffassung in einem vermeintlich einfachen Bild zusammenfaßte,
hatte somit den Status einer symbolischen Darstellung erlangt, deren Macht
ausreichte, um die Vorstellungskraft einer ganzen Generation von Architekten
heimzusuchen. Bezeichnenderweise benutzte Wittkower in diesem Zusam-
menhang das Verb to haunt, das im Englischen immer dann gebraucht wird,
wenn vom Einfluß nicht konkret greifbarer Dinge - wie etwa Geister,
40 Vgl. das maschinengeschriebene Manuskript, London, Warburg Institute.
41 With the Renaissance revival of the Greek mathematical interpretation of God and the world,
and invigorated by the Christian belief that Man as the image of God embodied the harmonies of
the Universe, the Vitruvian figure inscribed in a square and a circle became a symbol of the
mathematical sympathy between microcosm and macrocosm. R. WITTKOWER, Architectural
Principles, S.13-15, S.15 (zit. Eltg.).
42 This simple picture seemed to reveal a deep and fundamental truth about man and the world,
and its importance for Renaissance architects can hardly be overestimated. The image haunted
their imagination. Ebd., S.13.
KAPITEL I
Leonardos einen zentralen Platz in jener Tafel, die »verschiedene Grade der
Abtragung des kosmischen Systems auf den Menschen« veranschaulicht, doch
gleichzeitig akzeptierte er die Feststellung des weniger philosophisch
veranlagten Fritz Saxl, daß die Zeichnung Leonardos kein »Mikrokos-
mosmännchen«, sondern eine Proportionsstudie sei; unter das Manuskript von
Saxls Vortrag über den Makrokosmos und Mikrokosmos in mittelalterlichen
Bildern schrieb Warburg die Bemerkung: »Ganz famos«.40
4. Architectural Principles
In seinen Architectural Principles in the Age of Humanism von 1949 vollzog
Wittkower eine gegenüber Warburg und Saxl entscheidende Wendung, denn er
betonte nun den symbolischen Wert des homo vitruvianus, ohne seine historisch
zurückliegende, konkrete Bedeutung bei den einzelnen Autoren analysiert zu
haben:
Mit der Wiederbelebung der griechischen mathematischen Interpretation von Gott
und der Welt in der Renaissance und bestärkt durch den christlichen Glauben, daß
der Mensch als das Ebenbild Gottes die Harmonien des Universums verkörpere,
wurde die in Kreis und Quadrat eingeschriebene Vitruvische Figur zu einem
Symbol der mathematischen Sympathie zwischen Mikrokosmos und Makro-
kosmos.41
Vitruvs Proportionsfigur war für Wittkower damit zu einem Bild geworden,
dessen symbolische Kraft für Architekten der Renaissance beinahe unaus-
weichlich gewesen sei:
Dieses einfache Bild schien eine tiefe und grundlegende Wahrheit über Mensch
und Welt zu enthüllen, und seine Wichtigkeit (importance) für Renaissance-
architekten kann kaum überschätzt werden. Die Darstellung verfolgte ihre Vorstel-
lungskraft.42
Wittkower hatte mit dieser Formulierung Vitruvs Proportionsfigur von War-
burgs erkenntnistheoretisch motivierter Symbolsetzung auf die Vorstel-
lungskraft jener Künstler, Architekten und Theoretiker des 15. und 16. Jahr-
hunderts zurückprojiziert, deren Aussagen zu Vitruvs homo ad quadratum und
homo ad circulum er gleichzeitig unter einem beinahe ausschließlich
symbolischen Gesichtspunkt interpretierte. Eine bildliche Darstellung,
verstanden als ein Symbol, das eine möglicherweise allgemein verbreitete
Architekturauffassung in einem vermeintlich einfachen Bild zusammenfaßte,
hatte somit den Status einer symbolischen Darstellung erlangt, deren Macht
ausreichte, um die Vorstellungskraft einer ganzen Generation von Architekten
heimzusuchen. Bezeichnenderweise benutzte Wittkower in diesem Zusam-
menhang das Verb to haunt, das im Englischen immer dann gebraucht wird,
wenn vom Einfluß nicht konkret greifbarer Dinge - wie etwa Geister,
40 Vgl. das maschinengeschriebene Manuskript, London, Warburg Institute.
41 With the Renaissance revival of the Greek mathematical interpretation of God and the world,
and invigorated by the Christian belief that Man as the image of God embodied the harmonies of
the Universe, the Vitruvian figure inscribed in a square and a circle became a symbol of the
mathematical sympathy between microcosm and macrocosm. R. WITTKOWER, Architectural
Principles, S.13-15, S.15 (zit. Eltg.).
42 This simple picture seemed to reveal a deep and fundamental truth about man and the world,
and its importance for Renaissance architects can hardly be overestimated. The image haunted
their imagination. Ebd., S.13.