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KAPITEL IX
Die von Cesariano gewählte und übersetzte Lesart des Textes ist aus
philologischen Gründen nicht akzeptabel (denn es gibt keinen Ablativ ex
euthygrammatis), doch sie kommt den ursprünglichen Intentionen Vitruvs
möglicherweise sehr nahe. Denn wenn man den griechischen Quellen und
Martianus Capella folgend euthygrammum als gradlinige Figur auffaßt, dann
macht Cesarianos Erklärung einen praktischen Sinn. Ex euthygrammis circini
usus bei Vitruv und le Euthygrammate uso dil circino bei Cesariano meinen
demnach dieselbe Technik, nämlich den korrekten und messenden Gebrauch
des Zirkels zur Bestimmung von Linien, ebenen gradlinigen Figuren und
Winkeln. Dabei schreibt Vitruv, daß sich der Gebrauch des Zirkels aus den
gradlinigen Figuren ergibt, wohingegen in Cesarianos Kommentar diese
Figuren aus der messenden Bewegung des Zirkels resultieren. Vom praktischen
Standpunkt scheint mit beiden Beschreibungen dasselbe gemeint zu sein,
nämlich der Gebrauch des Zirkels, der in seiner Funktion, Quantitäten zu
messen und zu übertragen, die Konstruktion gradliniger Figuren ermöglicht.
Der praktische Standpunkt des handwerklich ausgebildeten Künstlers befähigte
Cesariano also, trotz philologischer Unzulänglichkeiten, den korrumpierten
Angaben des ebenfalls praktisch orientierten Texts Vitruvs ein Verständnis
abzugewinnen, das allem Anschein nach der ursprünglich intendierten
Bedeutung entspricht. Derselbe praktische Standpunkt, veranschaulicht durch
Zirkel und Lineal, prägt auch Cesarianos Erläuterung der Vitruvischen Propor-
tionsfigur.
3. Maß, Mensch und Metrologie
Cesarianos Kommentar zur Proportionsfigur Vitruvs zeigt das Verständnis ihrer
metrologischen Grundlagen, demonstriert ihre praktische Relevanz im Sinne
angewandter Baugeometrie und erklärt daraus die Bedeutung der für Entwurf
und Ausführung von Architektur notwendigen Instrumente. Dieses Verständnis
äußert sich zunächst in der Selbstverständlichkeit, mit der Cesariano die anthro-
pomorphen Standardmaße in seinen von der Baupraxis geprägten Kommentar
integriert. Hieraus folgt allem Anschein nach auch ein Eingriff in den Text von
De architectura, mit dem der Widerspruch des Vitruvischen Proportionskanons
(vgl. Kap. II) zumindest teilweise beseitigt wird. Wie die Philologen des 19.
Jahrhunderts nach ihm korrigiert er die Angabe Vitruvs, daß die Dimension von
der oberen Brust bis zum Scheitel 1/4 der Körperhöhe eines wohlpropor-
tionierten Mannes messe. Er erweitert diese Angabe, indem er in seine
italienische Übersetzung die Konjektur a mezo pectore einfügt und damit die
Dimension von 1/4 als diejenige bestimmt, die von der Mitte der Brust bis zum
Scheitel reicht.25
Cesarianos großformatige Illustrationen zu Vitruvs homo ad quadratum
(Abb. 20) und homo ad circulum (Abb. 21) vereinigen das bereits in der
Konjektur offenbarte metrologische Verständnis der Vitruvischen Proportionsfi-
gur mit generellen Aspekten der Gebäudeproportionierung und mit der
Baugeometrie. Der homo ad quadratum zeigt neben den bei Vitruv erläuterten
anthropomorphen Standardmaßen das architektonisch relevante Schema der
25 Ebd., fol.48r.
KAPITEL IX
Die von Cesariano gewählte und übersetzte Lesart des Textes ist aus
philologischen Gründen nicht akzeptabel (denn es gibt keinen Ablativ ex
euthygrammatis), doch sie kommt den ursprünglichen Intentionen Vitruvs
möglicherweise sehr nahe. Denn wenn man den griechischen Quellen und
Martianus Capella folgend euthygrammum als gradlinige Figur auffaßt, dann
macht Cesarianos Erklärung einen praktischen Sinn. Ex euthygrammis circini
usus bei Vitruv und le Euthygrammate uso dil circino bei Cesariano meinen
demnach dieselbe Technik, nämlich den korrekten und messenden Gebrauch
des Zirkels zur Bestimmung von Linien, ebenen gradlinigen Figuren und
Winkeln. Dabei schreibt Vitruv, daß sich der Gebrauch des Zirkels aus den
gradlinigen Figuren ergibt, wohingegen in Cesarianos Kommentar diese
Figuren aus der messenden Bewegung des Zirkels resultieren. Vom praktischen
Standpunkt scheint mit beiden Beschreibungen dasselbe gemeint zu sein,
nämlich der Gebrauch des Zirkels, der in seiner Funktion, Quantitäten zu
messen und zu übertragen, die Konstruktion gradliniger Figuren ermöglicht.
Der praktische Standpunkt des handwerklich ausgebildeten Künstlers befähigte
Cesariano also, trotz philologischer Unzulänglichkeiten, den korrumpierten
Angaben des ebenfalls praktisch orientierten Texts Vitruvs ein Verständnis
abzugewinnen, das allem Anschein nach der ursprünglich intendierten
Bedeutung entspricht. Derselbe praktische Standpunkt, veranschaulicht durch
Zirkel und Lineal, prägt auch Cesarianos Erläuterung der Vitruvischen Propor-
tionsfigur.
3. Maß, Mensch und Metrologie
Cesarianos Kommentar zur Proportionsfigur Vitruvs zeigt das Verständnis ihrer
metrologischen Grundlagen, demonstriert ihre praktische Relevanz im Sinne
angewandter Baugeometrie und erklärt daraus die Bedeutung der für Entwurf
und Ausführung von Architektur notwendigen Instrumente. Dieses Verständnis
äußert sich zunächst in der Selbstverständlichkeit, mit der Cesariano die anthro-
pomorphen Standardmaße in seinen von der Baupraxis geprägten Kommentar
integriert. Hieraus folgt allem Anschein nach auch ein Eingriff in den Text von
De architectura, mit dem der Widerspruch des Vitruvischen Proportionskanons
(vgl. Kap. II) zumindest teilweise beseitigt wird. Wie die Philologen des 19.
Jahrhunderts nach ihm korrigiert er die Angabe Vitruvs, daß die Dimension von
der oberen Brust bis zum Scheitel 1/4 der Körperhöhe eines wohlpropor-
tionierten Mannes messe. Er erweitert diese Angabe, indem er in seine
italienische Übersetzung die Konjektur a mezo pectore einfügt und damit die
Dimension von 1/4 als diejenige bestimmt, die von der Mitte der Brust bis zum
Scheitel reicht.25
Cesarianos großformatige Illustrationen zu Vitruvs homo ad quadratum
(Abb. 20) und homo ad circulum (Abb. 21) vereinigen das bereits in der
Konjektur offenbarte metrologische Verständnis der Vitruvischen Proportionsfi-
gur mit generellen Aspekten der Gebäudeproportionierung und mit der
Baugeometrie. Der homo ad quadratum zeigt neben den bei Vitruv erläuterten
anthropomorphen Standardmaßen das architektonisch relevante Schema der
25 Ebd., fol.48r.