Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
CESARE CESARIANO

139

4. Cesariano als Architekt
Cesarianos Architekturverständnis läßt sich zu einem guten Teil an seiner
Betonung der Rolle von Zirkel und Richtscheit sowie an seinen Ausführungen
über die außergewöhnliche Bedeutung der Metrologie ablesen. Deren Relevanz
bestätigt er erneut durch seine generelle Dreiteilung der Baukunst in einen
erfindenden (excogitativa), einen messenden (mensurativa) und in einen
bauenden (aedificativa) Teil.51 Diese Auffassung reflektiert die Haltung eines
traditionell handwerklich ausgebildeten Bauführers, der neben den üblichen
bauhandwerklichen Fähigkeiten umfangreiche Kenntnisse in der Vermes-
sungslehre besaß. Deren Bedeutung für die Architektur unterliegt keinem
Zweifel, doch gehen die Meinungen darüber auseinander, in welchem Ausmaß
ein Architekt selbst von der Ausführung praktischer Vermessungskunde
betroffen ist. Vitruv betont, daß der Baumeister seinen Ruhm durch die korrekte
Ausführungen der Symmetrien erlange, daß also die Kenntnis des Maßes
(mensura) und seine Verwendung unabdingbar seien (6.8.9.; vgl. Kap. II).
Ebenso konstatiert Columella die für den Architekten (architectus) unerläßliche
Kenntnis der Vermessungskunde (ratio mensurarum)52, erklärt aber gleichzeitig,
daß die Maße des Entwurfs und des fertiggestellten Gebäudes keineswegs von
ihm selbst, sondern vom Vermesser (mensor) abgenommen würden. Dies
entspricht der im antiken Rom üblichen Ausführung von Gebäudevermes-
sungen durch einen Spezialisten, den sogenannten mensor aedificiorum.53
Ebenso ambivalente Anschauungen über die Anwendung von Maß und
Vermessungskunde durch Architekten sind aus dem 15. bis 17. Jahrhundert
bekannt. So scheint Filarete sie in seinen Aufgabenbereich einzuschließen54, und
Gemma Frisius weist auf die architektonisch relevante Funktion des Jakobs-
stabes hin55; Michelangelo andererseits lehnte es ab, einen Florentiner
Ellenmaßstab in seinem Hause aufzubewahren, weil jenes Instrument in den
niederen Bereich der Maurer und Zimmerleute gehöre.56 Weniger drastisch
stimmen Mailänder Bauakten vom Beginn des 16.57 und Christoph Weigel58
gegen Ende des 17. Jahrhunderts darin überein, daß die Vermessung des
Bauplatzes von einem Ingenieur vorgenommen werde.
Aufgrund seiner agrimensorisehen Qualifikationen war Cesariano für jene
Art von vermessungstechnischen Aufgaben prädestiniert, deren Ausführung
Michelangelo weit von sich gewiesen hätte. Das unterschiedlich starke
Engagement in solchen Aufgaben sagt also etwas über den Rang einer am Bau
beschäftigten Person aus, und es demonstriert sowohl die für ein archi-

51 CESARIANO, Vitruuio, fol.l8r.

52 COLUMELLA, De re rustica 5.1.2-3.

53 Vgl. FABRICIUS, Mensor, in: Paulys Real-Encyclopaedie der Classischen Altertumswissen-
schaft, Bd.14.1., Stuttgart 1931, Sp.956-960, bes. Sp.959; C. STECKNER, Baurecht und
Bauordnung. Architektur, Staatsmedizin und Umwelt bei Vitruv, in: Vitruv-Kolloquium des
Deutschen Archäologischen Verbandes, hrsg. v. H. Knell und B. Wesenberg, Darmstadt 1984,
S.259-277, S.272-273.

54 FILARETE, Trattato, Bd.l., S.148.

55 GEMMA FRISIUS, De radio astronomico & geometrico liber, Antwerpen 1545, fol.20v-22r.

56 MICHELANGIOLO BUONAROTTI, Lettere, a cura di E. N. Girardi, Florenz 1976, S.229,
Nr.309.

57 Vgl. C. BARONI, Documenti per la storia dell' architettura a Milano nel rinascimento e nel
barocco, Bd.l, Florenz 1940, S.110-111.

58 WEIGEL, Abbildung der Hauptstände, S.29-33.
 
Annotationen