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Zuschlag, Christoph
"Entartete Kunst": Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland — Heidelberger kunstgeschichtliche Abhandlungen, N.F., 21: Worms: Werner, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.52006#0017
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Vorwort

Der auf die Erde hinabgestiegene Engel Cassiel, dargestellt von Otto Sander, fällt bei einem Besuch der Alten
Nationalgalerie Berlin mit einem Mal in die Feme-Ausstellung »Entartete Kunst« des Jahres 1937 zurück. Er
bricht zusammen, krümmt sich auf dem Boden - stummer Verzweiflungsschrei eines Besuchers. Mit dieser kur-
zen beklemmenden Szene erinnert Wim Wenders in seinem Film »In weiter Feme, so nah!« an die nationalsozia-
listische Schau »Entartete Kunst«.
Die vorliegende Arbeit ist meine grundlegend überarbeitete, aktualisierte und um einen Anhang ergänzte Disser-
tation, die im Sommer 1991 von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidel-
berg angenommen wurde. Sie entstand im Zusammenhang mit der Ausstellung »»Entartete Kunst'. Das Schick-
sal der Avantgarde im Nazi-Deutschland« von Stephanie Barron (Los Angeles County Museum of Art), die 1991
und 1992 in Los Angeles, Chicago, Washington, D. C. und Berlin präsentiert wurde.
Fünf jahre nach der Vereinigung beider deutscher Staaten und fünfzig Jahre nach Kriegsende kommen in Anbe-
tracht des politisch-gesellschaftlichen Klimas böse Erinnerungen auf: Während die Staats- und Regierungschefs
des 50. Jahrestages der Befreiung vom NS-Regime gedenken, verüben Unbekannte zum zweiten Mal innerhalb
von 14 Monaten einen Brandanschlag auf die Synagoge in Lübeck. In Hoyerswerda, Mölln, Rostock, Solingen
und in anderen Orten werden ausländische Mitbürger Opfer von Mordanschlägen - alarmierende Zeichen für
neuaufbrechenden gewalttätigen Antisemitismus, Fremdenhaß und Nationalismus.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus erneut an Brisanz. Eine fort-
schreitende Tabuisierung, wie sie sich etwa in der Absage der von Rudolf Herz im Münchner Stadtmuseum erar-
beiteten Schau »Hoffmann & Hitler. Fotografie als Medium des Führermythos« in Berlin und Saarbrücken geäu-
ßert hat, scheint mir fehl am Platze. Ähnliches gilt für Bestrebungen, welche unter die »Aufarbeitung der Vergan-
genheit«1 am liebsten einen Schlußstrich ziehen möchten, beispielsweise, indem sie sie dem Abrißbagger über-
antworten - jüngstes Beispiel ist die Kontroverse um die Zukunft des »Führerbunkers« unter dem Gelände der
ehemaligen Reichskanzlei in Berlin. Wie unzureichend die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in beiden deut-
schen Staaten war, hat der Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Ver-
brechen in Ludwigsburg, Alfred Streim, unlängst nachgewiesen.
Auch im kunstpolitischen Bereich werden die Folgen der Nazi-Diktatur in jüngerer Zeit durch eine Reihe von
Ereignissen in Erinnerung gerufen: In Bremen, Dresden, Essen, Halle, Leipzig und Wuppertal haben Museen
seit 1988 mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder Werke zurückerwerben können, die 1937 als »entar-
tet« beschlagnahmt worden waren, so in Dresden Wilhelm Lehmbrucks Plastik »Kniende«, in Essen Emil Noldes
»Stilleben mit Holzfigur«, in Halle Erich Heckels »Beim Vorlesen« und zuletzt in Leipzig Otto Muellers »Liebes-
paar«. Der Prozeß um die Rückgabe von Paul Klees 1937 in Hannover beschlagnahmter »Sumpflegende« aus der
Sammlung Lissitzky-Küppers hat zur Aufarbeitung der NS-Beschlagnahmungen aus juristischer Sicht geführt,
die freilich noch ganz am Anfang steht.2 Im Juli 1994 hat Deutschland einige Werke an Frankreich zurückgege-
1 Der mittlerweile etablierte Begriff entstammt dem Titel eines Vortrages aus dem Jahre 1959, in welchem sich Adorno für eine öf-
fentliche Thematisierung der NS-Zeit einsetzt (vgl. Adorno 1977). Zum Thema Aufarbeitung unter den Bedingungen der »dop-
pelten Vergangenheit« vgl. Habermas 1992. Zum Umgang mit dem NS-Erbe äußerte sich jüngst Nerdinger 1993b, S. 9-16.
2 Das Urteil des Kammergerichts Berlin vom 21. Mai 1992 wurde gedruckt in: NJW 46, 1993, Heft 22, S. 1480h In zweiter Instanz
wies das Landgericht München I die Klage am 8. Dezember 1993 ab; vgl. zu diesem Urteil, gegen das keine Berufung eingelegt
wurde und das rechtskräftig ist, den Kommentar von Erikjayme, in: IPRax 15, 1995, Nr. 1, S. 43. Vgl. ferner Jayme 1994a, 1994b
und 1994c sowie Steven A. Reich/Fischer 1993. Ebenfalls heranzuziehen sind Knott 1992, Günther Picker 1992 und Raue 1992.

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