B219: Der schwere Traum

Erzählung von einem belauschten Gespräch einer Dienerin mit ihrer Herrin, die träumt, dass ihr Geliebter sie betrogen habe

Verfasser: unbekannt

Datierung: früheste Überlieferung 15. Jh. (He10)
bzw. 1470/71 (Pr2)

Überlieferung:

Hss. der Hätzlerin-Gruppe:
Be3 29r–31v; 158 V.
Lg4 157r–159v; 158 V.
Pr2 21r–23v; 158 V.
Sonstige Hss.:
Be20 57r–59r; 153 V.
He10 140v–144r; 158 V.
St5 257v–260v; 152 V.

Edition:

Büttner 1813, 226–232 (nach St5); Haltaus 1840, 125–127 Nr. II 4
(nach Pr2 mit Laa. von Lg4 auf XLIII); Geuther 1899, 69 (Laa. der V. 1–20 von He10 und St5 zu Pr2);
Matthaei 1913, 158f. (Laa. von He10 zu Pr2).

Literatur:

Geuther 1899, 69–73;
Karnein 2VL 8 (1992), 945f.; Klingner/Lieb 2006, 148 und Anm. 23

Beschreibung der Überlieferung:

Überliefert im Kontext anderer Minnereden in den Sammelhss. Be3, Lg4, Pr2 und Be20 sowie am Ende der Minneredensammlung He10. In Be3, Lg4, Pr2 bildet der Text mit der folgenden Minnerede B247 ein inhaltlich korrespondierendes Paar.

Die Überlieferung ist relativ konstant. Die Hss. der ›Hätzlerin-Gruppe‹ (Be3, Lg4 und Pr2) weisen keine signifikante Varianz auf (Ausnahme: In Be3 folgt auf den Vers Pr2 96 das vorgezogene Verspaar Pr2 101f.); ebenso gering ist die Varianz zu He10 (Umstellung der Verse 17f.; einzelne Wortvarianzen), die nach Geuther 1899, 70, den »besten Text« bietet.

Etwas stärker weichen Be20 und St5 ab: So ist hier das Wort minne konsequent durch liebe ersetzt (vgl. die Verse Pr2 3, 8, 77, 94 mit Änderung des Reimworts in St5 lieb hinne / Be20: lieb hin, 112, 133). Gemeinsam fehlt beiden Hss. das Verspaar Pr2 130f. (daneben fehlen exklusiv in Be20 die Verse Pr2 85f. und 114; exklusiv in St5 fehlen die Verse Pr2 4, 104 und 141f.), zudem gehen sie bei inhaltlich signifikanten Wortvarianzen meist zusammen: In der Begründung der langen Heimlichkeit des Betrugs steht statt Pr2 100: geschonet St5 99: geschämpt (so auch Be20 98); statt Pr2 136: er ferret sich dem leib mein hat St5 132: er schemet sich der liebe mein (so auch Be20 131); statt Pr2 147: Der wirt ze letst der weib schimpff hat St5 141: der welt schimpf (so auch Be20 142); statt Pr2 152: schiuhen hat St5 148: versweren (so auch Be20 147). Alleine steht Be20 mit Be20 144: ersucht statt Pr2 149: verschmächt; nur St5 hat St5 10: ansprach, statt Pr2 11: vff prach und St5 70: Mir zu heil vnd die nyt statt Pr2 71: Mir ze hail vnd die not.

Überschrift:

Vonn einem schwerenn traum einer frawenn (Be3; gleichlautend in Be20, Lg4, Pr2 und St5)

Diz ist der Spruch von dem Traume (He10)

Inhalt:

(Nach Pr2) · A Exposition (1–19): Der Sprecher berichtet von nächtlicher Schlaflosigkeit aus Liebeskummer (von der Minne entzündet; Sorgen), in der ihm das beste Bett nichts nütze. Spaziergangseinleitung: Er bricht auf, geht im Dunkeln einen ihm unbekannten Weg und kommt vor eine schwach erleuchtete Kemenate.

B Traum und Erwachen der Dame (20–78): In der Kemenate steht ein verhängtes Bett, vor dem eine betende junge Frau kniet. Sie erblickt den Sprecher und bedeutet ihm, er möge leise und heimlich eintreten. Nun hört er, wie im Bett eine Dame in schlauffes grymme (32) laut die Untreue ihres Geliebten beklagt (Wortwiederholungen: 33: Obe, obe; 34: Ach vnd Ach) und sich herumwälzt: Stossen vnd pliuen (schlagen) | Tetten ir arm vnd pein (38f.). Der Sprecher tritt ein und bittet die junge Frau, ihre Herrin aus ihrem Traum zu wecken, was jene aus Angst, die Herrin könnte sich noch mehr aufregen, unterlassen hat (ab hier bis E wird der Sprecher nicht mehr erwähnt, sodass man nun von einer Situation des Belauschens ausgehen kann). – In diesem Moment richtet sich die Dame im Schlaf schreiend auf. Die Dienerin nimmt sie in die Arme und drückt sie wieder nieder. Alle Glieder der Dame beben, dass das Bett wackelt. Auf Nachfrage der Dienerin kann sie zunächst nicht antworten (Herzstoßen, kalter Schweiß), berichtet aber schließlich, dass sie träumte, ihren Geliebten verloren zu haben. Dies wäre ihr unerträglich. Schon vier Nächte habe sie denselben Traum gehabt, dessen Inhalt sie wiedergeben will.

C Traumbericht der Dame (79–115): In einer Minneszene kommt der Geliebte zu ihr. Sie umarmt und küsst ihn, nennt ihn ihren Leidvertreib und beteuert, ihm seit vielen Jahren ergeben zu sein. Der Mann berichtet jedoch, eine andere Frau zu lieben, die ihm das Herz gestohlen habe, was er aus Rücksicht bisher verschwiegen hätte (100: das ich dein geschonet hovn). Er sei ihr schon seit drei Jahren nicht mehr treu, sondern habe sich der anderen zugewandt, die ihn erfreue und überdies besser aussehe (112f.: Wann ich sy mynn für dich | Vnd geuelt meinen augen bas). Sie solle das akzeptieren, da es sich nicht ändern ließe.

D Gespräch zwischen Dame und Dienerin (116–155): Die Dame ist von den geträumten Worten ihres Geliebten zu Tode betrübt. Ihre Dienerin dagegen versucht lachend, ihr den Traum positiv auszulegen bzw. Träume als trügerisch zu diskreditieren. Die Dame berichtet, dass sie schon seit einem Jahr einen Untreueverdacht hege: Er habe ihr keine Bitten mehr erfüllt, sich von ihr zurückgezogen und sie aus angeblichem Zeitmangel (140: hatt ze schaffen anders was) vertröstet. Die Dame beklagt ihren Schmerz, will die Situation aber akzeptieren. Sie setzt darauf, dass solche Verachtung treuer Liebe auf den Mann zurückfalle, und rät allen Frauen, solche Männer zu meiden.

E Schluss (156–158): Der Sprecher geht und legt sich wieder schlafen.

Parallelen:

Geuther 1899, 70–73, weist auf ähnliche Formulierungen in B194 und B213 hin (mit Belegstellenliste), und vermutet einen mitteldeutschen Dichter ›Gozold‹ (nach der Überschrift von B213 in He10) als Autor aller drei Texte.

[Die Informationen stammen aus: Jacob Klingner/Ludger Lieb: Handbuch Minnereden. Berlin, Boston: de Gruyter 2013, Band 1. - Korrekturen, Aktualisierungen und Ergänzungen werden stillschweigend vorgenommen.]