B223: Der Spiegel
Lob der Geliebten und Traum von einem Spiegel, der die Wahrheit offenbart
Verfasser: Meister Altswert
Datierung: früheste Überlieferung vor 1410 (He10)
Überlieferung:
He3 216v–222v; 366 V.
He9 106v–114r; 366 V.
He10 67r–73r; 364 V.
Edition:
Holland/Keller 1850, 117–128 (krit.); Meyer, K. 1889, 35
(Korrekturen zu Holland/Keller)
Literatur:
Meyer, K. 1889; Glier 1971, 216–225; Wittmann-Klemm 1977, 115;
Glier 2VL 1 (1978), 319f.; Wallmann 1985, 306; Janota 2004, 344; Lichtblau 2007, 129–132
Beschreibung der Überlieferung:
Überliefert im Konvoi mit drei anderen Texten Meister Altswerts in der Reihenfolge B429, B430, B431, B223. Nur in B429 nennt sich der Autor ›Meister Altswert‹, die anderen Texte werden ihm aufgrund von Stil und Überlieferungsgemeinschaft zugewiesen. Die Altswert-Autorsammlung ist in He10 als ursprünglich selbständiger Faszikel überliefert. In He9 eröffnet sie die Minnereden-Sammlung, in He3 folgt sie auf die die Hs. eröffnenden Großformen B232 und B439 sowie zwei Texte Hermanns von Sachsenheim (B465 und B226). Die Hss. stimmen bis auf wenige, signifikante Varianten überein: In V. 22 ersetzten die jüngeren Hss. das unverständliche crosest (He10) durch drostest (He3, in Bezug auf das Reimwort losest) und durch troschest (He9); in V. 122 heißt es Sonder folter (He10) gegenüber An als fel (He9) bzw. Yn als fel (He3); in V. 176 gnick (He9) bzw. gnyck (He10) gegenüber kyn (He3); in V. 246 Mich tucht wie sie in wolte han (He10) gegenüber Ich gedacht ob sie in wölt gern han (He3, He9) und in V. 288 hünt (He10) gegenüber huot (He3, He9). Die Verse 88 und 158 fehlen in He10.
Überschrift:
dieß ist der spiegel (He10)
Inhalt:
(Zitate nach der Edition von Holland/Keller 1850, deren Zeilen neu durchnummeriert wurden) · A Preis der Minne (1–24): Der Sprecher richtet sich in anaphorischen Apostrophen direkt an die ›Minne‹ (Minn, du bzw. Minne, din …) direkt an und preist ihre reichen Gaben, die gleich einer wunderbaren Frucht unzählige Freuden, Trost und Kraft spenden können. Da die Macht der Minne ungemein groß sei und alles von ihr abhänge, wünscht sich der Sprecher, ihr Gefährte zu sein. Die Minne entzünde und lösche, schwinge und schlage in ihm.
B Liebe und Freude (25–48): Der Sprecher bekennt, dass der Zunder der Liebe sein Herz ganz und gar entflammt und ihm damit Freude gegeben habe, an der es ihm lange Zeit mangelte. Sollten seine Hochgestimmtheit und sein Glück anhalten (36f.: Wil mins heils wünschelruote | Mich lan in irm dienst sin), könne er immer ohne Leid leben. Seine Freude wachse beständig (in 43–52 kommt das Wort ›Freude‹ in jedem Vers vor; Wortwiederholung).
C Preis der Dame (49–88): Der Sprecher preist Zucht, Scham und ›rechtes Maß‹ seiner Dame. Unvergleichlich groß seien ihre Würde und ihr Lob. Sie sei ein mit Freude gefülltes Gefäß: Uz irem mund tugent fliuzet, Fröude sie in mich giuzet (63f.). Kurze Baumallegorie: Ihre Liebe sei wie ein Baum, der in dem Sprecher wurzele, dessen Glückszweige sich in ihm entfalteten und dessen Äste ihn umfingen. Jedes Gebot der Dame wolle der Sprecher vollständig befolgen. Sie trage den ›Ring der Maße‹ (86).
D Traum: Geschenk des Kaufmanns (89–158): Der Sprecher träumt, auf einem großen Jahrmarkt von einem Kaufmann angesprochen zu werden, der ihm – von der Tugendhaftigkeit des Sprechers überzeugt – einen stehelin spiegel (113) anpreist: Dieser kostbare Spiegel verfüge über die wundersame Fähigkeit, stets die Wahrheit zu offenbaren. Kein Betrug (wie ein mit Gold überzogener Stein) könne ihn täuschen; keine Bosheit könne sich vor ihm verbergen. Anständige Frauen und Männer würden im Spiegel ganz und gar mit Blumen geschmückt erscheinen (126: durchflorieret); böse Menschen hingegen erblasst und mit ruom wol bestrichen (128; mit Kehricht oder Mist bestrichen). Anhand eines Gleichnisses erläutert der Kaufmann die Wirkung des Spiegels: Gegenüber rotem Glas – so rein es auch sein möge – erkenne man die Echtheit eines Rubins daran, dass er des Tages wie des Nachts leuchte. Genauso bleibe dem Spiegel die Wahrheit über Frauen und Männer nicht verborgen. Der Aufwand, den man bei der Begutachtung eines Schweins betreibe (145–147: Den rachen man im uf zert, | Daz mul wirt im uf gespert; | Man luogt, ob ez rein si), sei beim Spiegel vollkommen unnötig, da sich in ihm alle Dinge ohne weiteres Zutun offenbarten. Der Kaufmann schenkt den Spiegel dem Sprecher; dieser bedankt sich.
E Traum: Begegnung mit der Dame (159–257): Das Gespräch zwischen dem Kaufmann und dem Sprecher belauscht eine Dame, deren einzigartige Schönheit (rote Wangen wie eine blühenden Aue im Mai; klare Augen wie ein Falke) und Zucht selbst den sittenlosesten Mann beeindruckt hätten. Schönheitsbeschreibung nach dem A capite ad calcem-Schema (169–185): Kopftuch, Stirn, Haare, Augenbrauen, Nase, Mund, Nacken (176: gnick), Brüste, Kinn, Zähne, Schultern, Arme, Finger, Hände, schlanke und hohe Körpergestalt, daz mittel teil (die Hüften?) waz groz (183), Oberschenkel, Beine und Füße. Die Dame, die ein Engelskleid trägt, bittet den Sprecher darum, in den Spiegel sehen zu dürfen. Sie möchte wissen, Wie wir bed sin gemuot, | Und ob der spiegel wil sin guot (193f.). Als der Sprecher der Dame den Wunsch gewährt, schaut sie lange in den Spiegel um den Sprecher zu betrachten. Auch wenn ihm verborgen bleibt, was sie darin erblickt, ist er zuversichtlich, dass sie nichts Schlimmes von ihm zu sehen bekommt. Als nun auch der Sprecher mittels des Spiegels die Dame betrachtet, erkennt er ihre vollkommene Tugendhaftigkeit, die er im Folgenden unter anderem anhand einer Baummetaphorik preist (214–240): Sie sei ein Baum des Maßhaltens; ihre Wurzeln gründen in der Beständigkeit; ihre Treue wachse Tag und Nacht; ihre Zucht grüne überall; ein böser Gedanke müsse an ihr verwelken. Wie ein Adler hoch oben am Himmel übertreffe sie alle Frauen der Erde. Am Blick der Dame erkennt der Sprecher sodann ihren Wunsch, den Spiegel zu besitzen. So unterbreitet er ihr das Angebot, ihr den Spiegel und sein ganzes Vermögen zu schenken, sollte sie ihm im Gegenzug ihre Gunst erweisen. Das Feuer der Liebe habe ihn entzündet, wie es ihm zuvor noch nicht geschehen sei. Als der Sprecher der Dame gesteht, dass ein tröstliches Wort von ihr für ihn das größte Glück bedeute, läutet es zur Messe, und er erwacht.
F Anrufung der Dame (258–344): Der Sprecher kann die Dame seines glückverheißenden Traumes nicht mehr vergessen. Es folgt eine gebetsartige Anrufung der Dame mit einer differenzierten Licht- und Feuermetaphorik sowie Canifizierungen. So bittet er die Geliebte unter anderem darum, ihn mit ihrem durchscheinenden Licht zu erleuchten und das Feuer, das noch in ihm glimmt, anzufachen (279: Min holz, daz ist zunder). Er versichert ihr zudem, dass sein Feuer keinen Schaden verursachen könne, da es von seinen acht Hunden bewacht werde: Wolbedacht (289), Liebe (299), Minn (301), Stete (303), Triuw (304), Zuoversicht (306), Will (308) und Harre (311), auf diese könne sich der Sprecher verlassen. Doch auf einen neunten Hund mit Namen Trost richte er sein ganzes Verlangen. Da nur sein Erwerb den Sprecher von Sorgen und Traurigkeit befreien könne, bittet er Gott um Hilfe, damit der erfrorene Zweig seines Glücks (330: Miner selden zwig was erfrorn) wieder Früchte trage. Für den Besitz des Hundes sei der Sprecher bereit, sein gesamtes Vermögen aufzubringen.
G Abschließender Preis der Dame (345–366): Der Sprecher nimmt die anaphorische Reihung von A wieder auf (345: Frow, hochgeborn; 347: Frou fri; 349: Frou, adels riche; 351: Frou wirdig usw.) und spricht nun der Dame sämtliche Attribute vollkommener Tugendhaftigkeit zu: Sie sei von hoher Abkunft, ungebunden, edelmütig, würdevoll, selig, aufrichtig, züchtig, liebevoll, schön und ehrenhaft. Er wünscht sich von ihr Frieden und Versöhnung und versichert ihr seine treue Ergebenheit. Nicht weniger als sein Leben habe er in ihre Hände gegeben. – Die Rede endet mit der Nennung des Titels: Dis rede heizet der spiegel (366) und einem Amen.
[Die Informationen stammen aus: Jacob Klingner/Ludger Lieb: Handbuch Minnereden. Berlin, Boston: de Gruyter 2013, Band 1. - Korrekturen, Aktualisierungen und Ergänzungen werden stillschweigend vorgenommen.]