B410: Männertreue und Frauentreue

Belauschtes Streitgespräch in hoher argumentativer und sprachlicher Qualität zwischen einer Dame und einem Ritter über die Frage, ob Männer oder Frauen treuer seien; mit harter Bestrafung des Ritters, welcher der Männertreue den Vorrang gibt

Verfasser: unbekannt

Datierung: früheste Überlieferung vor 1410 (He10)

Überlieferung:

Gruppe I: He10 107v–118v; 480 V.
Ka1 S. 295–302; 480 V.
Gruppe II: Be17 104v–111v; 315 V.
Tr 15v–20r; 457 V.

Edition:

Keller, A. 1855, 634–642 (nach Be17); Matthaei 1913, 74–81 Nr. 7
(nach He10 mit Laa. von Ka1 und Tr)

Literatur:

Blank 1970, 48f., 121, 124, 143;
Glier 1971, 366
f., 376; Kasten 1973, 123–128, 130f.; Rheinheimer 1975, 10, 29f., 33, 76–79; Kasten 2VL 5 (1985), 1218f.; Ziegeler 1985, 72 und Anm. 34; Dietl 1999, 351 und Anm. 111; Klingner/Lieb 2006, 155 und Anm. 45; Brügel 2008a;
Uhl
2010, 125, 270–274

Beschreibung der Überlieferung:

B410 ist eine der wenigen rheinischen Minnereden, die mehrfach bezeugt und auch in hochdeutsche Sammelhss. (He10, Be17, Ka1) aufgenommen wurde. Die späteste Überlieferung in Tr (Moselfranken, um 1490) beruht ebenfalls auf einer hochdeutschen Vorlage. Es lassen sich deutlich zwei Hss.-Gruppen unterscheiden, die von je zwei Hss. repräsentiert werden.

Gruppe I: In der reinen Minneredensammlung He10 wird B410 als mittlerer Text in einer Dreiergruppe rheinischer Provenienz (B480, B410, B444) überliefert; diese drei Reden sind alle mehrfach überliefert. In der Sammelhs. Ka1 wird B410 im ersten Teil des Minneredenblocks platziert zwischen den ebenfalls mehrfach bezeugten B232 und B444, wobei B410 und B444 möglicherweise auf die gleiche Vorlage (so Glier 1967, 254) zurückgehen wie die Parallelüberlieferung in He10. He10 und Ka1 sind verlässliche Textzeugen, die einen plausiblen Text mit nur geringfügiger Wortvarianz bieten.

Gruppe II: In der Sammelhs. Be17 befindet sich B410 im abschließenden Minneredenteil an zweiter Stelle einer Minneredengruppe (B500, B410, B198, B340), welche die reine Minneredenhs. Tr in genau umgekehrter Abfolge überliefert. Beide Überlieferungszeugen weichen signifikant ab von der ersten Gruppe durch eine schlechtere Textqualität und den (nach He10 454) veränderten Schluss mit 20 neuen Versen: Hier pflichtet der Sprecher zwar ebenfalls uneingeschränkt der Dame bei, es kommt aber zu Abweichungen. Zum einen werden für diejenigen Männer, die nicht die Position der beständigen Frauen unterstützen, die Konsequenzen deutlicher ausgemalt (Strafmechanismus), zum anderen wird der verkürzte Titel der II. Gruppe genannt, Frauentreue gepriesen und den Männern zur Nachahmung empfohlen; außerdem fehlt der Verweis auf eine textexterne Anschlusskommunikation. Dieser Schluss korrespondiert in seiner pragmatischen Tendenz auch mit dem kürzeren Titel Frauentreue dieser Gruppe (siehe unter Überschrift). Die Überschrift in He10 trägt dagegen eher den beiden dialektischen Positionen der kasuistischen Minnefrage Rechnung. Be17 hat einen lückenhaften Textbestand (He10 53–195 fehlen), da drei Blätter herausgerissen wurden. Der erhaltene Text weist zahlreiche Varianten auf: einfacher Wortaustausch (He10 5: uenden, 6: eigis var, 196: under rosse; Be17: wasser, wonderlich gefar, Aff grüner heid u.a.), Ersetzen ganzer Sätze, was auch zur Veränderung der Reimwörter führt (He10 33–35: sus fuor ich dar verlocken | biz daz ich by den kocken | mit mynem nachen da gestiez; dagegen Be17: Sust fur Ich vil snelle dar.| Da Ich der kerczen nam war| Vnd mynen nachen zü Ime gestieß; He10 323f.: wer sihet so mancherley | clarer wibe fey; dagegen Be17: Wann er sicht manig stolcz wip, | So wurt Ime müt synne vnd lyp); Kontraktion von Versen (He10 245f.: von aller der werlt ere vil. | tu hin, ez ist ein kindes spil; dagegen Be17: Gein der welt vnd eren spil); Vertauschung zweier aufeinander folgender Verse (He10 21f.: zu hant sach ich der suonen schin | alda der wint begond lin; dagegen Be17: Vnd ließ der wint sin wegen sin. | Zü hant sach Ich der sunen schin.); Vertauschung von Reimwörtern (He10 207f.: springen / singen; dagegen Be17: singen / springen); fehlende Verse (He10 226, 236f., 277f., 290, 298, 309–312, 404, 415–420, 441f.) und Plusverse (je 2 V. nach He10 308 und 390).

Tr steht Be17 nahe durch den unsorgfältigen und fehlerhaften Text, zahlreiche Übereinstimmungen in Wort- und Satzvarianzen, durch Minusverse (He10 236f., 277f., 309–312, 414–420, 441f.) und Plusverse (je 2 V. nach He10 308 und 390). Tr hat jedoch exklusive Entstellungen, Be17 bietet dann zusammen mit der ersten Gruppe die plausibleren Lesarten an: u.a. He10 279: belczwerg; Be17: belecz werck; dagegen Tr: besser werck. He10 1: Min weg; Be17: Ein weck; dagegen Tr: Bezcwanngk. He10 210: dez byderben; Be17: des byderben; dagegen Tr: des schuldigen. – Unterschrift: Amen. Eynyg vnd arm bin Ich.

Überschrift:

Der frouwen truwe (Be17; gleichlautend in Tr)

Diser sproch ist ob manne trèuwe beßer sy oder frawen truwen (He10)

Inhalt:

(Nach He10; Zitate nach Matthaei 1913) . A Spaziergangseinleitung (1–37): Der Sprecher kommt eines Morgens an ein Gewässer (See, Meer, Fluss?). Es stürmt heftig, haushohe Wellen entwickeln sich, der Sprecher bekommt Angst (7: mir beguonde grusen). Er beschließt, am Ufer zu verweilen, bis das Unwetter vorüber ist. Der Sprecher beobachtet, dass sich der Himmel durch den Nordwind aufhellt (16: ein wenig pla; 20: gemenget) und schließlich die Sonne durchbricht. Auf der Suche nach einem Fährmann gewahrt er in einem engen Hafen ein Schiff mit einem blauen Segel. Er steigt in einen kleinen Nachen und fährt zum Schiff hinüber.

B Das blaue Schiff (38–95): In dem menschenleeren blauen Schiff entdeckt er die blaue Innendekoration und den wunderbar blauen Samtbehang der Schiffswand. Darauf befinden sich Inschriften von erhabenen goldenen Buchstaben, die erläutern, dass die Farbe Blau, welche die Leute tragen, Beständigkeit bedeute und dass man sich davor hüten solle, dass – als Zeichen der Untreue – das Blau mit Schwarz gemischt werde (53f.: dar umb beseh sich wer sie trage, | daz die varwe icht von im clage). Der Sprecher wird schläfrig und überlegt sich, dass das Schiff doch ein idealer heimlicher Ort für edle Frauen sei, um in guter Gesellschaft angemessen miteinander sprechen zu können; hier, wo es keine Klaffer (?) gebe (70f.: daz sie | sweres volkes wern entladen). Bevor er einschläft, gerät er in einen Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen. Das Gemurmel (78: muermeln) einer Männer- und einer Frauenstimme wecken ihn, und es lockt ihn hinaus auf eine nahe Insel (?). Er verbirgt sich dort und wird heimlich Zeuge des Streitgespräches zwischen einem Ritter und einer Dame.

C Streitgespräch (96–436): Das Gespräch findet nicht nur auf einer abstrakten Ebene statt, sondern bezieht auch die beiden Gesprächspartner als konkrete Personen ein, die jeweils ein unterschiedliches Kommunikationsverhalten haben. So spricht die Dame sehr emotional, wovon ihre Inquit-Formeln zeugen (136: sie antwuert mit zorns braht; 217: sie antwuert mit zorns muot). Der Ritter dagegen spricht zwar mit hartem don (126), bekundet aber ausdrücklich, on zorn (127) zu sein, und spricht eher gemäßigt und aus Betroffenheit heraus (169: er sprach gar sidelich; 267: ihm waz die rede swer; 377: er sere wart erfert). – Die Dame spricht den Ritter auf seine jüngsten ritterlichen Ausfahrten und den dabei ausgeübten Frauendienst an, bei denen er sich verdient gemacht habe. Deswegen erwähle sie ihn zum (Rede)Gesellen und bitte um Belehrung (Eröffnungstechnik), ob er irgendwo Antwort (110: uff dez underscheides pfat) auf die Frage gefunden habe, ob Frauen- oder Männertreue vollkommener sei.  Der Ritter meint, die Dame habe ihn über die Maßen gelobt; es sei aber vielmehr so, dass ihn eher das Dach der Schande als die Krone der Ehren bedeckt habe (118f.).  Die Dame beharrt weiter auf ihrer Frage.  Der Ritter bezieht sich auf seinen ritterlichen Eid und gibt ganz klar der Treue der Männer den Vorzug. Diese nähmen in einer Minne-Beziehung größere Belastungen auf sich; außerdem spielt er noch auf heimliche Untreue der Frauen an.  Die Dame weist diese Anschuldigung vehement zurück, u.a. mit dem Argument, dass die Frauen auf Grund ihrer schwächlichen Natur (158: ploedikeid) gar nicht ihre Liebe eingestehen könnten. Daraus resultiere oft großes Herzeleid. Die Frauen verhielten sich anders als die Männer, die prahlten und aus einem Guten Abend der Frauen gleich einen Guten Morgen ableiteten.  Der Ritter gesteht der Dame eine ausgeprägte Redekompetenz zu, aber das sei ja auch ihre Natur: ein frawe klaffet me dann manne dry (174). Dann führt er das Argument an, dass die Männer Besitz und Leben im Frauendienst aufs Spiel setzten. Ein Mann würde dabei mehr wagen um einer einzigen Frau willen als 1000 Frauen zusammen um eines Mannes willen. Sie solle einmal daran denken, in welche Länder jenseits des Meeres die Frauen die Männer, teils ungerüstet, zum Minnedienst schickten, wo sie ihre Blut vergössen! Die Frau (Apostrophe 192, 164: ach wip) dränge den Mann in das Wappen des Todes (193), um ihretwillen geschehe dieser Mord (195; drastische Schilderung der Verletzungen). Und dann komme nachts ein snoeder schrancz (204) daher, der durch springen, | lauffen, tanczen, singen,| toben, trincken, eßen (207–209) die Frauen beeindrucke. Sie vergäßen dann ganz den trefflichen Ritter, der, tagsüber in ihrem Dienst verwundet, in seine Herberge zurückkehren müsse.  Die Dame wiederholt seine Argumentation, entkräftet sie aber, indem sie die angeblich ritterlich-kämpferische Bewährung als Ausdruck männlicher Selbstbezogenheit entlarvt (239: sie tetens umb sin selbz pris). Wie Eis würde die Ritterschaft dahinschmelzen, wenn es nur um die Frauendienst ginge. Kaum ein Ritter wäre tapfer, wenn er von der Welt nicht geehrt würde. Nichts, was seine Ehre schmälere, täte er für die Frauen. Als Exempel stellt sie dagegen sich selbst dar. Sie beschwört, ihr Leben für einen geliebten Freund opfern zu wollen, wenn dieser sie darum bäte.  Daraufhin fährt der Ritter den traditionsreichen Miles-Clericus-Konflikt auf, der hier noch um den Stand der Handwerker erweitert wird: Frauen würden Handwerk und Gesang der Pfaffen höher achten als den Klang der Helme (299f.: so ahtet ir hantwerg, pfaffen sang | hoeher dann der helme clang).  Die Dame stellt daraufhin klar, dass sie nicht an unendelich diet (305; etwa nichtsnütziges Volk) gedacht habe, sondern an einen aufrichtig liebenden Mann. Danach greift sie zu einem psychologischen Argument, das sich aus der verschiedenen Lebensweise von Männern und Frauen ableitet: Treue und beständige Minne könnten bei Rittern gar nicht entstehen, da sie ein unbeständiges Leben führten und dabei vielen Frauen begegneten. Ihre Herzen seien versteinert; das Hin-und-Her-Reiten verwildere ihre Sinne. Die Frauen dagegen müssten immer zu Hause bleiben, das mache ihre Gedanken und Gefühle beständig, sodass vollkommene Treue mit steter fluot (342) ihr Herz umfließe. Zuletzt argumentiert die Dame, dass man deswegen so wenig von der Frauentreue höre, weil die Frauen ihre Liebe im Tal des Herzens (350) verbergen und von ihrer Treue wegen der bösen Klaffer nicht reden würden. Die Klaffer nämlich würden mit ihrem gleffer (358), gebletze (359) und gesneptze (360) alles ins Negative ziehen.  Der Ritter erkennt sein Unrecht in der Einschätzung der weiblichen Treue an (Revocatio). Überwunden gibt er sich als Gefangener in ihre Hände und bittet selbst um eine Fessel (382: drueh). Damit wird die abstrakte Argumentationsebene endgültig verlassen. Die Parteinahme für eine dem anderen Diskussionspartner nicht genehme Position gilt hier also auf der realen Ebene als Verbrechen, das hart bestraft wird.  Die Dame entpuppt sich jetzt in Wort und Tat als recht gewalttätig. Sie sei jetzt sein Meister und wolle ihn quälen, dass ihm sein Hochmut vergehe. Das solle für alle seine Gefährten als Exempel dienen, dass Frauentreue der Inbegriff der Treue sei und über der Treue der Männer stehe. Sie lässt nun den Ritter kaum mehr zu Worte kommen. Sie fesselt ihn und treibt ihn im Triumph wie eine Gans auf das blaue Schiff, das für ihn zum Gefängnis wird. Sie will ihn 30 Meilen weit fortführen. Diese Rolle der strafenden Richterin und der Besitz des blauen Schiffes könnten die Dame als Personifikation (Frau Stete) ausweisen (vgl. auch die Inschrift auf dem Schiff).

D Schluss (437–480): Der Sprecher bricht jetzt ebenfalls auf und reflektiert noch einmal das Geschehen. Er stimmt der Argumentation der Dame zu, dass man an der Treue der Männer betrogen sei und allein die Treue der Frauen zähle. Er empfiehlt jedem, der diesen Minnediskurs höre, ihn an alle anderen Männer weiterzugeben (textexterne Anschlusskommunikation). In einer Apostrophe bittet er den vortrefflichen Mann, sich an reine Frauen zu halten und auf deren Treue zu bauen. Auch der Schlussvers (480) ist noch einmal ein Appell an diese Zielgruppe.

Parallelen:

Ähnliche misogyne Argumente begegnen auch in B407. Am Ende von B433 macht ebenfalls eine zornige und gewalttätige Personifikation den Sprecher in einem kleinen Gemach zu ihrem Gefangenen; eine reale Fesslung findet sich auch in B260. – Weitere kasuistische Minnefragen in einem narrativen Rahmen enthalten auch die rheinischen Minnereden B423, B496, B497; zusätzlich mit historischem Personal: B480, B483, B484.

Sonstiges:

Es finden sich auffallend viele Schwellen, bis der Sprecher an dem heimlichen Ort des Streitgesprächs ankommt: Spaziergang – Ufer – Überfahrt auf dem Nachen – Aufenthalt auf dem blauen Schiff – Halbschlaf – Schleichweg auf die Insel. – Kasten in ²VL 5 (1985), 1219, vermutet hinter dem Text »eine parodistische Absicht des Autors«.

[Die Informationen stammen aus: Jacob Klingner/Ludger Lieb: Handbuch Minnereden. Berlin, Boston: de Gruyter 2013, Band 1. - Korrekturen, Aktualisierungen und Ergänzungen werden stillschweigend vorgenommen.]