B424: Der Minner im Garten

Belauschte Minnelehre durch Frau Venus

Verfasser: unbekannt

Datierung: Überlieferung Anfang 15. Jh.

Überlieferung:

He10 74r–82v; 388 V.

Edition:

Matthaei 1907, 82–86;
Matthaei 1913, 59–65 Nr. 5

Literatur:

Matthaei 1907, 21, 82;
Blank 1970, 149;
Karnein 2VL 6 (1987) 584f.;
Lieb 2008, 199

Beschreibung der Überlieferung:

Unikal überliefert in der reinen Minneredenhs. He10 nach Minnereden von Meister Altswert (B429, B430, B431, B223) und vor dem Liebesbrief von Gozold (B213). Matthaei 1907, 82 Anm. 1, schließt aufgrund der Reime auf einen ostfränkischen Verfasser.

Überschrift:

Dis ist ein sproch von dem mynnen in dem garten

Inhalt:

A Prolog (1–42): Der Sprecher klagt die Minne und ihren Orden an: Sich treuer Liebe zu einer Frau zu verschreiben (u.a. Bild des immerwährenden Minnefeuers) bringe endloses und unermeßliches Leid hervor, wenn man die Geliebte meiden müsse (Tod aus Liebesleid, Minne macht dem Mann zum Toren usw.). Der Sprecher bittet die Minne, die er jetzt als Königin Venus anspricht, dass sie den so leidenden Minnenden helfe. Sie sei dazu verpflichtet. Woher er dies wisse, wolle er jetzt sagen.

B Spaziergangseinleitung (43–70): Der Sprecher reitet im Mai in ein unbekanntes Land. Durch ein Tor betritt er einen großen Garten. Ein großer Fluss, auf dem Schiffe fahren, fließt durch den Garten. Der Sprecher nähert sich unbemerkt einem jungen Mann (65: er mohte ein kuonig ein keyser sy), der unter einem Baum seinen Kummer klagt.

C Belauschte Liebesklage (71–107): Der junge Mann klagt, dass sein Herz vor Liebesschmerz vergehe (74: alz vor dem fuere ein snee), da er die Geliebte meiden, ihren erlösenden Anblick (Vergleich mit erfrischendem Tau) entbehren müsse: Ein Tag komme ihm vor wie hundert Jahre, jeder Stahl würde bei solcher Belastung brechen.

D Belauschtes Gespräch mit Frau Venus (108–382): Der junge Mann sinkt ohnmächtig nieder. Nun sieht der Sprecher über 500 Schiffe mit roten Segeln herankommen. Es ist Frau Venus mit ihrem Gefolge von über 5000 teilweise adligen Frauen und Männern, die dem gepeinigten Minner zu Hilfe kommen will. Hervorgehoben wird vor allem der musikalische Dimension des Aufzugs (zu hören sind: Pauke, Pfeife, Tambourin, Posaune, Fidel, Rotte, Saitenspiel). Nach langer Anreise von gut tausend Meilen geht die Flotte vor Anker. Frau Venus setzt mit einem kleinen Schiff an Land. Der Minner schreckt auf und fragt verwirrt, ob es Tag sei und wer ihn geweckt habe.  Frau Venus grüßt ihn freundlich und gibt ihm zu verstehen, dass seine Liebe und Treue nicht umsonst gewesen seien, sondern ihn in ihren Augen und in denen der Geliebten wertvoller gemacht hätten.  Der Minner fragt, wer sie sei.  Sie präsentiert sich als Königin Venus und Helferin der Minnenden  Auf ihre Namensnennung hin geht sie der Minner hart an: Sie sei ein ungetruwez wip (193); er hasse sie, denn sie habe ihn in seiner Not (Tod aus Liebesleid, Stricke der Sehnsucht, gebrochenes Herz) im Stich gelassen, während sie anderen, die die Liebe nicht ernst nähmen und Frauen verleumdeten, unverdient zum Glück verhelfe; sie sei dumm, weil sie nicht jeden so belohne, wie er es verdiene.  Klug und beschwichtigend antwortet Frau Venus, dass sie wohl kaum den entlohnen könne, dem die Liebe nichts gelte (228f.: wie mag ich selden den gewer | der selde nicht erkennet). Auch wenn ein solcher Frauenverächter von Frauen belohnt würde, sei er doch vom höchsten Glück ausgeschlossen (236: der hoehsten selden er doch enbirt) und freue sich nicht, denn er werde von den recht Liebenden verschmäht. Wer aber das begehre, dem sei Pelzrock (244: kuersen) und Mäntelchen einerlei (sprichwörtlich im Sinne von Jacke wie Hose?). Ganz anders der Minner: Seine Treue zeichne ihn aus, mache ihn allen Frauen preisenswert und veredle ihn (Läuterungsminne). Die Frau aber, die einen Frauenverächter belohne, werde von ihr mit Verachtung bestraft (260: die wil ich abschribe | von aller hohen, werden art). Eine solche Frau werde immer der rechten Liebe unwert sein. Mehr brauche sie, Venus, nicht tun, wenn sich jene dem Pelzrock (269: der
k
uersen) vergleiche, der für sie, Venus, gleichviel wert sei wie Stroh. Solchen Menschen widerfahre nicht wirklich Gutes, sie besäßen weder Treue noch auch den Schmerz, der (von wahrer Liebe herrührend) viele zu ruhmreichen Taten ansporne. Sie habe allen Menschen den freien Willen gegeben, sich an das Gute oder an das Schlechte zu kehren; sie folge jeweils nur dieser Entscheidung. – Frau Venus bringt dann ein ausführliches Gleichnis: Der unedle Rabe, der ein krankes Rind (300: schelmigs rint) frisst und laut kräht, er habe ein edles Tier selbst erlegt, und der edle Falke, der unerschrocken in hohe Flughöhen aufsteigt, um den Reiher zu fangen, und dann schweigsam genießt, werden gleichgesetzt mit dem unehrenhaften bzw. ehrenhaften Minner. Letzterer schwinge sich in tugendhaftem und ehrenvollen ritterlichen Verhalten empor, wage sein Leben durch werder frawen gruoz (353) und steige dadurch in Wert und Ansehen bei den edlen Damen, die ihm zwangsläufig ihre Gunst erwiesen. Sofern der Mann die Geliebte in rechter Treue und Beständigkeit im Herzen bewahre, werde er von ihr Gruß und damit Erlösung erfahren.  Der Minner beteuert, dass er sich nach dieser Lehre richten werde. Nachdem er ihren Segen erhalten hat, bittet er Frau Venus zum Abschied, sie möge auch seine Geliebte diese rechte Liebelehren, damit sie ihn entlohne.  Frau Venus schließt: Ich weiz daz sie ez tuot (382).

E Epilog (383–388): Schlussverse des Sprechers mit einer sehr allgemeinen Zusammenfassung: Frau Minne habe erläutert, wie es sich mit Liebe und Leid und mit werten und unwerten Liebenden verhalte. Bekundung seiner Ohrenzeugenschaft.

Parallelen:

Karnein 2VL 6 (1987) sieht Parallelen zwischen der Lehre der Frau Venus und Motiven der Spruchdichtung, ohne allerdings konkrete Vergleichstexte zu benennen.

[Die Informationen stammen aus: Jacob Klingner/Ludger Lieb: Handbuch Minnereden. Berlin, Boston: de Gruyter 2013, Band 1. - Korrekturen, Aktualisierungen und Ergänzungen werden stillschweigend vorgenommen.]