B503: Der entflogene Falke
Gespräch des Sprechers mit einer Dame, deren gut erzogener und
geschmückter Falke entflogen ist und die es aufgibt, nach ihm zu suchen,
was der Sprecher als vorbildliche Treue preist
Verfasser: unbekannt
Datierung: Überlieferung vor 1410
Überlieferung:
He10 134r–140v; 284 V.
Edition:
Matthaei 1913, 92–96 Nr. 9
Literatur:
Kasten 2VL 2 (1980), 569f.;
Uhl 2010, 276 Anm. 21, 286
Beschreibung der Überlieferung:
Unikal überliefert im zweiten Teil der reinen Minneredensammlung He10.
Überschrift:
Diser spruch ist von dem valken
Inhalt:
A Exposition (1–14): Der Sprecher beklagt sein Minneleid. Die Traurigkeit fließe wie ein schneller Bach durch seine Gedanken und beraube ihn seiner Freude.
B Spaziergang (15–61): Vom Kummer bewegt wendet sich der Sprecher einem Wald zu, läuft durch grünen Klee (21: rante durch den gruenen kle) und sieht plötzlich eine schöne Dame im Passgang (24: zelten) auf sich zukommen. Er befürchtet, dass sie vor ihm in den Wald fliehen will, doch sie bleibt. Er bemerkt, dass auch sie von Leid beherrscht wird. Sie grüßt ihn freundlich. Er wendet sich ans Pulikum und preist ihre Schönheit, weibliche Würde und Beständigkeit.
C Gespräch (62–271): Die Dame klagt dem Sprecher ihr Unglück: Ihr Falke, den sie auch als freude spil (70) und mins herczen kuerzwile (71) bezeichnet, sei ihr entflogen (81f.: mir ist enpflogen | ein valk, den ich het erzogen), und sie sei ihm allein in den Wald nachgelaufen. Der Verlust des Falken, den sie liebevoll großgezogen habe, nehme ihr für alle Zeit ihre Freude. Seit ihren ersten Kinderspielen mit Puppe und Ball (100f.: sit ich die ersten kindes spil, | dy tocken und den bal verlie) habe sie keine so angenehme Unterhaltung wie durch den Falken erfahren. Der Vogel sei so schön und aus einer edlen Zucht gewesen. Die Dame bittet den Sprecher um Rat, was sie tun solle. ♦ In der Absicht, die Dame zu trösten, rät ihr der Sprecher, dieselbe Kunst, mit der sie den entflogenen Falken großgezogen habe, einem anderen Falken zuzuwenden. Kurz: Sie solle einfach einen neuen Vogel aufziehen. ♦ Die Dame reagiert abweisend. Sie würde niemals einen weiteren Falken aufziehen. Man nenne es wohl geungebildet (153: ›unvorstellbar‹), dass sich jener Falke ihr entfremdet habe, den sie seit seiner Geburt (156: sit daz er uz der schaln kroch) so zärtlich erzogen habe. ♦ Der Sprecher tröstet die Dame und erklärt sich bereit, in den Wald zu reiten, um den Falken zu suchen. ♦ Doch sie lehnt das Angebot mit der Begründung ab, es schaffe nur zusätzliches Leid, wenn der Sprecher sich für sie abmühe. Am Ende würde er ihr wegen seiner treuen Dienste nur zornig werden, denn der Falke sei unwiederbringlich verloren. Die Dame berichtet nun von ihren Erfahrungen mit dem Falken: Sie habe ihn über viele Jahre erzogen, ohne dass ihr untat, untugend, alle unart (181) an ihm aufgefallen seien. Vielmehr habe sie ihn davor bewahrt und ihm der Regel gemäß gelehrt, die Lockspeise (185: daz luder) gern anzunehmen. Nur heute habe er gescheut und sei nicht ihrem Rufen gefolgt, vielmehr sei er mit schnellem Flügelschlag über den Wald hinweg davongeflogen. Sie wolle nun trauern wie eine Turteltaube, die sich nach einem Verlust auf einen dürren Zweig setze und klage. Wo auch immer der Falke gefangen werde, dort werde er niemals so umsorgt und gepflegt wie bei ihr. Das Gefieder des Falken sei überall glatt und an keiner Stelle struppig gewesen. Da sie ihn jagdgemäß mit einer Kopfbedeckung und Fußbekleidung versehen habe (230f.: gehuebet | und beschuhet), müsse der Vogel ihre Liebe wohl bemerkt haben. Nun führe er das rote Gold und die glänzenden Schellen hinweg, deren Klang ihre Freude im Herzensgrund entzündet hätte. Nun, da er weg sei, müsse sie in Leid vergehen. Die Dame windet ihre Hände und bittet den Sprecher, nach Hause zu reiten und die nutzlose Suche aufzugeben. Die ›Zahmheit‹ (260: die zame) sei dem Falken schon genommen, er reagiere nicht mehr auf Menschen. ♦ Der Sprecher drückt erneut sein Mitgefühl und seine Hilfsbereitschaft aus. ♦ Sie lehnt wiederum ausdrücklich ab. Er solle es sein lassen und umkehren. Sie wünscht ihm den Schutz Gottes und trennt sich von ihm.
D Lehre und Lob der Treue (272–284): Der Treue einer reinen und würdigen Frau gegenüber – so die Lehre des Sprechers – sei alle andere Treue schwach. Wahre Treue gebe es nur bei guten Frauen. Er wünscht und gönnt der Dame, dass ihr ein selig fuont (280) widerfahre.
Parallelen:
Die Minnerede wirkt wie eine Episierung des Falkenlieds des Kürenbergers (MF 8,33), auf das sie aber kaum direkt zurückgehen wird. Das Motiv war vor allem im Lied weit verbreitet (vgl. Kasten 2VL 2 [1980], 569), jedoch kaum in den Minnereden: Vergleichbar ist lediglich noch B512, in der jedoch ein Mann den geliebten Falken verloren hat.
[Die Informationen stammen aus: Jacob Klingner/Ludger Lieb: Handbuch Minnereden. Berlin, Boston: de Gruyter 2013, Band 1. - Korrekturen, Aktualisierungen und Ergänzungen werden stillschweigend vorgenommen.]