Einführung

Die Literatur des Deutschen Ordens nimmt in der germanistischen Forschung eine prominente Stellung ein, denn es ist durchaus ungewöhnlich, dass ein Ritterorden eine eigene Literatur produziert. Zwar kann die Editionslage insgesamt als gut bezeichnet werden, ist aber disparat. Eine weitere Besonderheit ist die Überlieferung: Sie ist äußerst schmal. Wie es dazu gekommen ist, ist bis heute unklar. Möglich sind zwei Erklärungen: Entweder ist die Anzahl der Handschriften von Beginn an gering oder es sind nach Auflösung des Ordensstaates 1525 zahlreiche Handschriften makuliert worden. Doch weder für das eine noch das andere sind Belege gefunden worden, die eine eindeutige Erklärung ermöglichen.

Die vorhandenen Handschriften aber zeigen eine eingehende und sehr sorgfältige Betreuung. Ihre Herstellung erfolgte geplant und offenbar gut organisiert. Schließlich wurden sie durchgesehen und korrigiert. Das Ausstattungsniveau reicht von einfachen, kleinen Handschriften zum (Selbst)Studium bis zu kostbar illuminierten übergroßen Prachtkodizes. Die meisten von ihnen wurden im zweiten und dritten Drittel des 14. Jahrhunderts angefertigt. Im 15. Jahrhundert ändert sich dieses Profil signifikant; die Qualität sowohl in der Ausstattung als auch in der Textkontrolle lässt nach. Die Gründe dafür sind bislang wenig untersucht.

Aus dieser Gruppe der schmalen Textzeugenüberlieferung ragt als einziger Text die Chronik des Nikolaus von Jeroschin heraus. Allein sie ist breiter und über einen längeren Zeitraum überliefert – und wahrscheinlich auch über das Preußenland hinaus. Somit bietet allein sie Material, das umfangreich genug ist, die Handschriftenherstellung im oder durch den Deutschen Orden eingehender zu untersuchen.

Die bislang einzig vollständige Edition der Chronik von 1861 ist zwar verlässlich und hat der Forschung gute Dienste geleistet. Sie berücksichtigt aber die Überlieferung nur ungenau; zudem sind die meisten Fragmente – und damit wichtige Textzeugen – erst im Nachhinein entdeckt worden.

Die so entstandenen Lücken will das Projekt schließen. In einem ersten Schritt werden dazu die Texte aller in der der Ordenszeit (bis 1525) entstandenen Handschriften der Chronik erfasst und nach einem einheitlichen Verfahren transkribiert. Das umfasst auch die Korrekturen und Hinweise für die Rubrikatoren. Dadurch wird zweierlei erreicht:

  • wird auf diese Weise der Textbestand gesichert, übersichtlich dargestellt und vergleichbar gemacht.
  • können mit den kodikologischen und paläographischen Zusatzinformationen Arbeitsprozesse bei der Textherstellung sichtbar gemacht werden.

Beide Punkte sind für Erforschung des Schriftwesens im Deutschen Orden von besonderer Bedeutung, denn nur so können Fragen der Textstabilität und der in der Forschung diskutierten Normierung von Text und Handschriften (Bartels/Wolf) geklärt werden. Nur so können Rückschlüsse auf das Textverständnis sowie auf die Intentionen gewonnen werden. Und nur so lässt sich zeigen, ob über die Jahrzehnte (bzw. Jahrhunderte) ein Wandel stattgefunden hat und gegebenenfalls wie dieser beschaffen ist.