Line wahre Dulderkaste! fasset die Menschen I Das ist das erste
Gebot, paffet sie, denn sie schinden euch lebendigen Leibes. Den
letzten Llaum rupfen sie euch unbarmherzig aus. paffet sie, denn
sie füttern euch nur, um euch um so tiefer zu verderben > Euer
Lleisch und euer Lett dient ihnen zur Nahrung! Ihr füttert euch
nur für sie! Ls ist unrecht, daß ihr Schnecken, Würmer, Aaser
freßt; denn auch sie sind eine Dulderkaste. Auch Gras dürft ihr
nicht fressen. Auf dem Grase trampeln Mensch und Tier herum.
Das Gras ist nach uns Gänsen von allen Gottesgeschöpfen das
ärmste und geplagteste. Nur von peu und Aörnern. die die
Natur uns freiwillig schenkt, dürft ihr leben. Das ist das zweite
Gebot. Aber peu und Aörner sind nicht für euch allein auf der
Welt. Lin jedes Gottesgeschöpf hat das gleiche Recht an allen
Gottesgaben. Seid nicht unduldsam gegen Kennen und AückenI
Auch die Lnten haben das gleiche Recht wie wir. Noch weniger
dürft ihr aber die ganz Schwachen, die Amseln, Spatzen unter-
drücken. And wenn ihr eine Grille oder Ameise ein Aorn ver-
schleppen seht, so dürft ihr es ihnen nicht verwehren; denn auch sie
sind gleichberechtigt. Das ist das dritte Gebot. Sodann schnattert
nicht so viel! Der Aluge redet nicht, sondern denkt. Lasset das
Schnattern den Menschen, die keine zwei Schritte nebeneinander
hergehen können, ohne zu plappern! Auch wenn ein Luchs kommt,
schnattert nicht l Lr ist ebenfalls ein Gottesgeschöpf und hat sein
Recht auf Nahrung. Das war das vierte Gebot und nun höret
noch das fünfte: Geht nicht immer eine hinter der andern! Das
ist eine dumme Großmuttergewohnheit und unästhetisch zu-
gleich."
Der Anfang der Rede hatte namentlich auf die Jüngeren
der Versammlung großen Lindruck gemacht und es waren nicht
wenige, die bereit waren, Schna-Tra-Ga zu folgen, wenn es ihnen
auch schien, als seien die Gebote schwer zu erfüllen. Aber gerade
das unmöglich Erscheinende zieht an. Bei dem vierten und fünften
Gebot erhob sich aber ein heftiger Sturm. Die ältesten Gänse
schrien, Schna-Tra-Ga sei Revolutionärin, ohne Tradition, ja sie
sei überhaupt keine Gans, was schon ihre Wasserscheu beweise.
And die alte Schne-Tre-Ge biß die kühne Prophetin als erste in die
dünnen Beine. Das war das Zeichen zum Beginne eines fürchter-
lichen Tumults. Alle hieben auf die unglückliche Schna-Tra-Ga
ein und nur mit Mühe rettete sie sich vor den Schnäbeln der
empörten Schwestern das Leben.
Anverzagt zog sie sich abermals in die Einsamkeit zurück und
lebte streng nach ihren fünf Geboten. Sie hoffte durch das Bei-
spiel auf ihr verlorenes Geschlecht zu wirken.
Die waxpelige Alte, der das seltsame Gebahren Schna-Tra-
Gas auffiel, sagte zu Pepi: „Ich glaube, die magere Gans wird
krank. Sie mag schon nicht mehr fressen."
„Dann schlachte sie ab", erwiderte der Taugenichts.
An, nächsten Morgen fingen beide die Prophetin ein.
Die Gänseherde, die den Norgang sah, schnatterte sich zu:
„Seid brav, seid brav, seid immer brav. . ."
Der Baum.
vor dem Pause stand der Baum, pimmelstrebende Äste trugen
die stolze Dachkuppel von grünen, Laub. In seinem Schatten spielten
die Ainder, wenn in dem Glast der Mittagsonne die Landschaft
ruhte. Atanchmal mißhandelten die Ainder den Baum. Sie schlugen
nach den Zweigen und schnitzelten die Rinde ab. Lr aber liebte
sie und schenkte ihnen jeden perbst schöne, braunpolierte Lrüchte.
Lines Tages kamen fremde Männer. Sie maßen viel mit langen
Bändern, steckten bunte Stangen in die Erde und einer guckte
durch ein Lernrohr, das auf einem Dreifuß ruhte. Dann kanien
andere mit Tan. Säge, Beil und sie legten Band an den Baum.
Die Ainder strömten herbei und sahen zu, wie das Richtseil un,
einen starken Ast geschlungen wurde, wie zwei Männer mit den
Äxten eine tiefe Aerbe hieben, daß die stolze Arone zitterte, wie
die Männer an dem Seile zogen, daß der Riese wankte und wie
er endlich mit schmerzlichem Gestöhne zusammenbrach. Da lag
nun die stolze Arone in dem Straßenkot. Die Männer hackten die
Äste und Zweige ab und zerschnitten den Stamm. Wie grünes
Blut rieselten die Blätter am Wege und in der Luft lag ein süß-
licher Geruch wie in einem Lleischerladen.
„Der stolze Baum I" riefen bedauernd die Ainder. Der peinrich
111
H*
Gebot, paffet sie, denn sie schinden euch lebendigen Leibes. Den
letzten Llaum rupfen sie euch unbarmherzig aus. paffet sie, denn
sie füttern euch nur, um euch um so tiefer zu verderben > Euer
Lleisch und euer Lett dient ihnen zur Nahrung! Ihr füttert euch
nur für sie! Ls ist unrecht, daß ihr Schnecken, Würmer, Aaser
freßt; denn auch sie sind eine Dulderkaste. Auch Gras dürft ihr
nicht fressen. Auf dem Grase trampeln Mensch und Tier herum.
Das Gras ist nach uns Gänsen von allen Gottesgeschöpfen das
ärmste und geplagteste. Nur von peu und Aörnern. die die
Natur uns freiwillig schenkt, dürft ihr leben. Das ist das zweite
Gebot. Aber peu und Aörner sind nicht für euch allein auf der
Welt. Lin jedes Gottesgeschöpf hat das gleiche Recht an allen
Gottesgaben. Seid nicht unduldsam gegen Kennen und AückenI
Auch die Lnten haben das gleiche Recht wie wir. Noch weniger
dürft ihr aber die ganz Schwachen, die Amseln, Spatzen unter-
drücken. And wenn ihr eine Grille oder Ameise ein Aorn ver-
schleppen seht, so dürft ihr es ihnen nicht verwehren; denn auch sie
sind gleichberechtigt. Das ist das dritte Gebot. Sodann schnattert
nicht so viel! Der Aluge redet nicht, sondern denkt. Lasset das
Schnattern den Menschen, die keine zwei Schritte nebeneinander
hergehen können, ohne zu plappern! Auch wenn ein Luchs kommt,
schnattert nicht l Lr ist ebenfalls ein Gottesgeschöpf und hat sein
Recht auf Nahrung. Das war das vierte Gebot und nun höret
noch das fünfte: Geht nicht immer eine hinter der andern! Das
ist eine dumme Großmuttergewohnheit und unästhetisch zu-
gleich."
Der Anfang der Rede hatte namentlich auf die Jüngeren
der Versammlung großen Lindruck gemacht und es waren nicht
wenige, die bereit waren, Schna-Tra-Ga zu folgen, wenn es ihnen
auch schien, als seien die Gebote schwer zu erfüllen. Aber gerade
das unmöglich Erscheinende zieht an. Bei dem vierten und fünften
Gebot erhob sich aber ein heftiger Sturm. Die ältesten Gänse
schrien, Schna-Tra-Ga sei Revolutionärin, ohne Tradition, ja sie
sei überhaupt keine Gans, was schon ihre Wasserscheu beweise.
And die alte Schne-Tre-Ge biß die kühne Prophetin als erste in die
dünnen Beine. Das war das Zeichen zum Beginne eines fürchter-
lichen Tumults. Alle hieben auf die unglückliche Schna-Tra-Ga
ein und nur mit Mühe rettete sie sich vor den Schnäbeln der
empörten Schwestern das Leben.
Anverzagt zog sie sich abermals in die Einsamkeit zurück und
lebte streng nach ihren fünf Geboten. Sie hoffte durch das Bei-
spiel auf ihr verlorenes Geschlecht zu wirken.
Die waxpelige Alte, der das seltsame Gebahren Schna-Tra-
Gas auffiel, sagte zu Pepi: „Ich glaube, die magere Gans wird
krank. Sie mag schon nicht mehr fressen."
„Dann schlachte sie ab", erwiderte der Taugenichts.
An, nächsten Morgen fingen beide die Prophetin ein.
Die Gänseherde, die den Norgang sah, schnatterte sich zu:
„Seid brav, seid brav, seid immer brav. . ."
Der Baum.
vor dem Pause stand der Baum, pimmelstrebende Äste trugen
die stolze Dachkuppel von grünen, Laub. In seinem Schatten spielten
die Ainder, wenn in dem Glast der Mittagsonne die Landschaft
ruhte. Atanchmal mißhandelten die Ainder den Baum. Sie schlugen
nach den Zweigen und schnitzelten die Rinde ab. Lr aber liebte
sie und schenkte ihnen jeden perbst schöne, braunpolierte Lrüchte.
Lines Tages kamen fremde Männer. Sie maßen viel mit langen
Bändern, steckten bunte Stangen in die Erde und einer guckte
durch ein Lernrohr, das auf einem Dreifuß ruhte. Dann kanien
andere mit Tan. Säge, Beil und sie legten Band an den Baum.
Die Ainder strömten herbei und sahen zu, wie das Richtseil un,
einen starken Ast geschlungen wurde, wie zwei Männer mit den
Äxten eine tiefe Aerbe hieben, daß die stolze Arone zitterte, wie
die Männer an dem Seile zogen, daß der Riese wankte und wie
er endlich mit schmerzlichem Gestöhne zusammenbrach. Da lag
nun die stolze Arone in dem Straßenkot. Die Männer hackten die
Äste und Zweige ab und zerschnitten den Stamm. Wie grünes
Blut rieselten die Blätter am Wege und in der Luft lag ein süß-
licher Geruch wie in einem Lleischerladen.
„Der stolze Baum I" riefen bedauernd die Ainder. Der peinrich
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Drei Fabeln"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsdatum
um 1921
Entstehungsdatum (normiert)
1916 - 1926
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 155.1921, Nr. 3975, S. 111
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg