Eine Alterszeichnung Donatellos?
Von Anny E, Popp
Das British Museum in London besitzt eine für das Quattrocento einzigartige, Donatello
zugeschriebene Pietäzeichnung (Photo. Braun 73271 Taf.I), von der man aus Mangel an Ver-
gleichsmaterial zwar nicht mit apodiktischer Gewißheit behaupten kann, daß sie von Donatello
ist, die aber so sehr den Geist seiner Alterswerke atmet und in deren Probleme einführt,
daß eine Zusammenstellung nicht nach dem Gesichtspunkte der manuellen Ausführung,
sondern der geistigen Übereinstimmung gerechtfertigt erscheint, selbst wenn ein letztes
Wort in der Autorenfrage nicht gesagt werden kann.
I.
Alle formalen Sonderbarkeiten der Federzeichnung, die sie von anderen Quattrocento-
zeichnungen scheiden, werden durch den Vergleich mit dem späten Reliefstil Donatellos,
wie ihn die Kanzeln von S. Lorenzo repräsentieren, verständlich. Was bei ihr in erster
Linie auffällt, ist die Betonung der vertikalen Schraffen in den Zentralgestalten:
Christus und der Madonna, und den Hintergrundfiguren, während in der kauernden
Magdalena und dem knienden Josef von Arimathia den Schräglagen der Schraffen der
Vorrang bleibt.
Diese systematische Teilung in zwei verschiedene Formelemente muß einen bestimmten
Sinn haben; denn jedem kommt eine andere Wirkung zu: während unakzentuierte vertikale
Schraffen (denn um solche gleichmäßige Linien handelt es sich hier) nur die vertikale
Erstreckung der Formen betonen, eine Flächen dimension, erwecken die Schräglagen
das Gefühl der Erstreckung nach den verschiedensten Richtungen, ihr Nebeneinander den
Eindruck von Flächen, die in Winkeln zueinander stehen. Es wirken also die in verschie-
denen Richtungen gegeneinander stoßenden Schräglagen unvergleichlich räumlicher als die
Vertikallagen und Magdalena und Josef von Arimathia umgeben dadurch die Hauptszene
wie mit einem plastischen Rahmen: das sind dieselben Tendenzen, die wir in den Reliefs
der Kanzeln von S. Lorenzo, vor allem der Grabtragung (Abb. 30) finden, die die Weite des.
Raumes durch die bildhafte Ferne und plastische Nähe, durch die Verbindung von Flach- und
Hochrelief erreicht, wo dem skizzenhaften Flachrelief fast vollrund vor den Rahmen tretende
Gestalten gegenübergestellt sind. Um einen derartigen Rahmen handelt es sich hier
nun nicht, wohl aber um das deutliche Steigern der Plastizität von dem Zentrum zu den
Seiten, von der Tiefe zu der Nähe, von dem in der Flächenschicht haftenden zu dem die
Flächenschicht durchbrechenden.
Denn die Vertikalschraffen bei Christus und Maria haben gar keinen anderen Sinn,,
als alle Formen nur aus Vertikalflächen zusammenzusetzen und nicht durch meßbare
Von Anny E, Popp
Das British Museum in London besitzt eine für das Quattrocento einzigartige, Donatello
zugeschriebene Pietäzeichnung (Photo. Braun 73271 Taf.I), von der man aus Mangel an Ver-
gleichsmaterial zwar nicht mit apodiktischer Gewißheit behaupten kann, daß sie von Donatello
ist, die aber so sehr den Geist seiner Alterswerke atmet und in deren Probleme einführt,
daß eine Zusammenstellung nicht nach dem Gesichtspunkte der manuellen Ausführung,
sondern der geistigen Übereinstimmung gerechtfertigt erscheint, selbst wenn ein letztes
Wort in der Autorenfrage nicht gesagt werden kann.
I.
Alle formalen Sonderbarkeiten der Federzeichnung, die sie von anderen Quattrocento-
zeichnungen scheiden, werden durch den Vergleich mit dem späten Reliefstil Donatellos,
wie ihn die Kanzeln von S. Lorenzo repräsentieren, verständlich. Was bei ihr in erster
Linie auffällt, ist die Betonung der vertikalen Schraffen in den Zentralgestalten:
Christus und der Madonna, und den Hintergrundfiguren, während in der kauernden
Magdalena und dem knienden Josef von Arimathia den Schräglagen der Schraffen der
Vorrang bleibt.
Diese systematische Teilung in zwei verschiedene Formelemente muß einen bestimmten
Sinn haben; denn jedem kommt eine andere Wirkung zu: während unakzentuierte vertikale
Schraffen (denn um solche gleichmäßige Linien handelt es sich hier) nur die vertikale
Erstreckung der Formen betonen, eine Flächen dimension, erwecken die Schräglagen
das Gefühl der Erstreckung nach den verschiedensten Richtungen, ihr Nebeneinander den
Eindruck von Flächen, die in Winkeln zueinander stehen. Es wirken also die in verschie-
denen Richtungen gegeneinander stoßenden Schräglagen unvergleichlich räumlicher als die
Vertikallagen und Magdalena und Josef von Arimathia umgeben dadurch die Hauptszene
wie mit einem plastischen Rahmen: das sind dieselben Tendenzen, die wir in den Reliefs
der Kanzeln von S. Lorenzo, vor allem der Grabtragung (Abb. 30) finden, die die Weite des.
Raumes durch die bildhafte Ferne und plastische Nähe, durch die Verbindung von Flach- und
Hochrelief erreicht, wo dem skizzenhaften Flachrelief fast vollrund vor den Rahmen tretende
Gestalten gegenübergestellt sind. Um einen derartigen Rahmen handelt es sich hier
nun nicht, wohl aber um das deutliche Steigern der Plastizität von dem Zentrum zu den
Seiten, von der Tiefe zu der Nähe, von dem in der Flächenschicht haftenden zu dem die
Flächenschicht durchbrechenden.
Denn die Vertikalschraffen bei Christus und Maria haben gar keinen anderen Sinn,,
als alle Formen nur aus Vertikalflächen zusammenzusetzen und nicht durch meßbare