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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 4.1910

DOI Heft:
Heft XII (Dezember 1910)
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Pudor, Heinrich: "Laokoon" oder über die Gesetze der Anschauungsformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.34105#0187
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Heft XII

IV, Jahrgang

Dezember 1910

Schriftleiter: Gustav Kolb, Oberreallehrer in Göppingen.


. „Laokoon1' oder über die Gesetze der Anschauungsformen.
, Umschau. — Besprechungen.— Zeichenlehrerprüfungen 1910.

Zu unseren Abbildungen.

„Laokoon“ oder über die Gesetze der Anschauungsformen.
Von Dr. Heinrich Pudor.
Unsere Anschauung vollzieht sich vermöge der Sinne. Für die künstlerische
Darstellung kommen in Betracht Gesichtssinn und der Gehörsinn. Man kann
dementsprechend unterscheiden zwischen den Künsten des Gesichtssinnes (bildende
Kunst) und denjenigen des Gehörssinnes (Dichtkunst und Musik). Die Grenzen
des Gesichtssinnes gelten für die Grenzen der bildenden Künste, und die Grenzen
des Gehörssinnes für die Dichtkunst und Musik. In den Zeiten des Verfalls der
Kunst wurden diese Grenzen übergangen, und das, was in das Gebiet der einen
Kunst gehört, wurde in das der anderen bezogen.
Ferner können wir unsere Anschauungsformen unterscheiden in Baumkünste
und Zeitkünste. Die Baumkünste haben es mit Buhe und Zustand zu tun, die
Zeitkünste mit Bewegung und Veränderung. Das geeignetste Beispiel zur Er-
läuterung dieser Gesetze bildet die Gruppe des Laokoon. Es handelt sich um die
Frage, warum Laokoon, wie er in dem berühmten Kunstwerk dargestellt ist, nicht
schreit. Vorerst sei kurz hingewiesen auf den Stand der Frage. Voraussetzung
für die Untersuchung des Grundes, warum Laokoon nicht schreit, ist der Umstand,
dass ein Mensch, der einen heftigen physischen Schmerz erleidet, zu schreien pflegt.
Laokoon wird von der Schlange in die Seite gebissen: trotzdem aber schreit er
nicht. Winkelmann gab als Grund für dieses Nichtschreien an: Das Schreien sei
ein Ausdruck masslosen Leidens. Massloses Leiden aber vertrage sich nicht mit
der edlen Einfalt und stillen Grösse, das ist mit dem Charakter der griechischen
Kunstwerke. Winkelmann setzt also das Schreien als Masslosigkeit dem massvollen
griechischen Wesen gegenüber. Nun ist offenbar, dass, wenngleich das griechische
Wesen zum guten Teil in der Mässigung liegt, und wenngleich die griechischen
Kunstwerke im allgemeinen die Mässigung zum Ausdruck bringen, diese Mässigung
das Schreien als einen vorübergehenden Zustand nicht ausschliesst, und dass in
der Tat andere Kunstwerke des massvollen griechischen Geistes das Schreien dar-
gestellt haben. So schreit Philoktet im Sophokleischen Stücke. Dies Sophokleische
Stück ist aber ein poetisches Kunstwerk, während der Laokoon ein plastisches
Kunstwerk ist. Vielleicht wird also der Grund, warum Laokoon nicht schreit,
während Philoktet sehr wohl schreit, darin liegen, dass sich das Schreien, der Aus-
druck masslosen Leidens, nicht mit dem Charakter der plastischen Kunstwerke und
sehr wohl mit dem der poetischen Kunstwerke verträgt. Lessing sagt: das Schreien
ist formlos, das Plastische aber soll formenschön sein; deshalb schliesst das Plastische
das Schreien aus. Dieser Grund trifft aber den Nagel noch nicht auf den Kopf.
Denn auch das poetische Kunstwerk soll formenschön sein, und doch findet sich
in den Dramen und Epen das Schreien. Die oben gegebene Einteilung der Künste
legt den Grund näher in die Hand. Die Plastik gehört zu den Künsten des
Gesichtssinnes. Die Poesie gehört zu den Künsten des Gehörssinnes. Das Schreien
kann nur Gegenstand des Gehörssinnes, niemals aber des Gesichtssinnes sein.
Also kann das Schreien von einer Kunst des Gesichtssinnes nicht zur Darstellung
gebracht werden. Der Schrei wird gehört, nicht gesehen, ein plastisches Kunst-
werk wird gesehen, nicht gehört. Laokoon hätte den Mund noch so weit aufreissen
mögen, man würde ihn niemals schreien gehört haben: denn das Wesen des
Schreies liegt im Laut, nicht im Mundaufsperren. Der Laokoon hat den Zweck,
angeschaut zu werden; den Schrei aber kann man nicht anschauen. Man kann
wohl einen offenen Mund anschauen, ein offener Mund aber ist kein Schrei, wohl
aber etwas Hässliches.
Aehnlich sagt Schopenhauer im dritten Bande seiner „Welt als Wille und
Vorstellung“: „Man konnte nicht aus Marmor einen schreienden Laokoon hervor-
 
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