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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 4.1910

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Heft XII (Dezember 1910)
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Pudor, Heinrich: "Laokoon" oder über die Gesetze der Anschauungsformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.34105#0188

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bringen, sondern nur einen den Mund aufreissenden und zu schreien sich frucht-
los bemühenden, einen Laokoon, dem die Stimme im Halse stecken geblieben:
,,vox faucibus haesit.“ Das Wesen und folglich auch die Wirkung des Schreiens
auf den Zuschauer liegt ganz allein im Laut, nicht im Mundaufsperren.“
Man kann im allgemeinen sagen: das, was in das Gebiet des Gesichtssinnes
gehört, darf nicht Gegenstand der Kunst des Gehörssinnes werden, und das, was
in das Gebiet des Gehörssinnes gehört, darf nicht Gegenstand der Kunst des
Gesichtssinnes werden. Das Schreien, Singen, Lachen gehört in das Gebiet des
Gehörssinnes, es wird gehört; es darf also nicht Gegenstand der Kunst des Gesichts-
sinnes werden. Der Laokoon des Virgil, welcher den Zweck hat, gehört zu werden,
schreit. Der Laokoon in der berühmten plastischen Gruppe, welcher den Zweck
hat gesehen zu werden, schreit nicht.
Freilich hatte nun der Künstler der Laokoongruppe noch die Aufgabe, dem
Zuschauer begreiflich zu machen, warum der Laokoon selbst, also der von der
Schlange gebissene Priester, den der Künstler darstellte, nicht schreit. Denn der
Laokoon selbst in Person, als ihn die Schlange biss, wird doch nicht deshalb nicht
geschrien haben, weil sich das Schreien nicht mit der bildenden Kunst verträgt.
Nehmen wir z. B. an, dass auf der plastischen Gruppe des Laokoon dargestellt
wäre, wie die Schlange eben den Kopf erhebt, um zu beissen. In diesem Falle
wäre es das Natürliche gewesen, dass der Priester in seiner Todesangst geschrien
hätte. Und wenn der bildende Künstler einerseits dargestellt hätte, wie die Schlange
eben beissen will, und andererseits das Schreien des Priesters nicht dargestellt
hätte, so wäre er unwahr gewesen. Der Künstler musste vielmehr aus der Leihe
von Momenten, während deren Laokoon mit seinen Söhnen von den Schlangen er-
würgt wurde, denjenigen wählen, während dessen der Laokoon in Wirklichkeit nicht
schrie oder zu schreien keine Ursache hatte oder nicht zu schreien vermochte,
nämlich den Augenblick, in dem die Schlange den Biss in die Seite ausführte.
Eine notwendige und unausbleibliche Folge des Bisses ist es, dass der Unterleib
sich einzieht. Sobald aber der Unterleib sich einzieht, ist es unmöglich zu schreien,
denn beim Schreien wird der Unterleib herausgetrieben. In dem Augenblicke des
Bisses also wurde der Schrei erstickt. Diesen Augenblick also musste der Künstler
wählen, wenn es seine Aufgabe war, den nicht schreienden Laokoon darzustellen.
Und diesen Augenblick hat er auch gewählt. Wir sehen in der Gruppe, wie die
Schlange den Laokoon in die Seite beisst, wie der Unterleib des Laokoon sich
krampfhaft einzieht, wie der Schrei erstickt, wie der Mund schmerzvoll nur ein
wenig geöffnet ist. — Man muss also bedenken: Laokoon in dem Moment, in
welchem er dargestellt ist, konnte nicht schreien. Aber der Grund, warum der
Künstler gerade diesen Augenblick wählte, liegt darin, dass es ihm als plastischen
Künstler überhaupt unmöglich war, den Schrei darzustellen, sintemalen der Schrei
gehört, sein Werk aber gesehen wird.
Ueberaus interessant ist es nun , dass in der Aeneide Virgils Laokoon erst
von der Schlange ergriffen und gebissen wird, und dass dann erst „sein Wehruf
erschallt wie des Stieres Gebrülle, der tief verwundet vom Altäre läuft“! Ebenso
wie Laokoon dicht vor dem Bisse, wird er dicht nach dem Bisse geschrien haben.
Da der Schrei gehört wird, der Schrei indessen in das Gebiet des Gehörssinnes
gehört und von der Kunst des Gehörssinnes dargestellt werden kann, so erzählte
Virgil, wie Laokoon erst gebissen wird und dann laut aufschreit.*

Zu unseren Abbildungen.
Wir bringen zunächst die Wiedergabe der im Günther-Wagner-Wettbewerb
preisgekrönten Ex-libris-Entwürfe. Die Originale selbst sind Radierungen.
Den intimen Reiz derselben, wobei der warme Ton des Papiers und der Zeichnung
nicht unwesentlich ist, können wir allerdings nicht wiedergeben. Aber das können
* Vgl. Näheres in dem Bache des Verfassers „Laokoon“, kunsttheoretische Essays.
Verlag Herrn. Seemann Nachf., Leipzig, Berlin.
 
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