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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 4.1910

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Heft VI (Juni 1910)
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Kolb, Gustav: Der neue Lehrplan für das Freihandzeichnen an den höheren Knabenschulen in Württemberg
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https://doi.org/10.11588/diglit.34105#0081

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Heft VI

IV. Jahrgang

Juni 1910

Schriftleiter: Gustav Kolb, Oberreallehrer in Göppingen.

Inhalt:
Lothringen. —

Der neue Lehrplan für das Freihandzeichnen an den höheren Knabenschulen in Württemberg. —
Ueber die Pflege des Heimatlichen im ländlichen und städtischen Bauwesen (II.) — „Ausstellungs-
fähig“. — Verein badischer Zeichenlehrer. — Verein für Zeichen- und Kunstunterricht in Elsass-
Umschau. — Besprechungen.

Der neue Lehrplan für das Freihandzeichnen an den höheren
Knabenschulen in Württemberg.
Den Lehrplänen, die durch die Zeichenunterrichtsreform veranlasst wurden,
gesellte sich der für die höheren Knabenschulen Württembergs als letzter hinzu.
Preussen ging vor fast einem Jahrzehnt voran, die andern Bundesstaaten sowie
Oesterreich-üngarn folgten. In Württemberg selbst eröffneten die höheren Mädchen-
schulen den Beigen, dann kamen die Volksschulen.
Man durfte demnach erwarten, dass der letzte Lehrplan der reifste werden,
die Mängel seiner Vorgänger umgehen und die neuen Gesichtspunkte, die sich
theoretisch und praktisch aus der Bewegung im Lauf der Jahre ergeben hatten,
in sich schliessen würde.
Das ist nun allerdings bezüglich seines I. und II. Teils weniger der Pall.
Der III. Teil indessen, der mit „Erläuterungen“ überschrieben ist, darf im grossen
ganzen als eine äusserst glückliche Interpretation der neuen Ideen und Bestrebungen
bezeichnet werden.
Teil I. Lehrziel: „Ausbildung des Beobachtungs-, Auffassungs- und Vor-
stellungsvermögens; Entwicklung des Formen-und Farbensinns; Fähigkeit, Gesehenes
selbständig darzustellen. Pflege des Sinns für Schönheit der Natur und Kunst.“
Hätte man das nicht bündiger fassen können? Seit Kant ist der Begriff
Gesichtsvorstellung in die wissenschaftliche Welt eingeführt, und Kerschen-
steiner hat ihm mit seinem Werk Die Entwicklung der zeichnerischen Begabung“
in der Zeichenunterrichtsliteratur Heimatrecht verschafft. Wir könnten an Stelle
der drei ersten Abschnitte setzen: Ausbildung der Fähigkeit, Gesichts-
vorstellungen zu bilden und in Form und Farbe darzustellen,
und hätten damit eine prägnantere Fassung gewonnen. Auch würden wir
im letzten Abschnitt das Wort ,,Schönheit“ gerne vermissen, denn so — ohne dass
„Gesetzmässigkeit“' noch dazugesetzt ist — ruft es einen ornamentalen Eindruck
hervor. Doch das sind allerdings mehr oder weniger formelle Einwendungen, die
ich selbst nicht allzusehr betonen will. Viel wichtiger ist mir, zu sagen, was
ich vermisse.
Immer klarer ist uns im Lauf der Jahre die Erkenntnis geworden, dass der
Zeichen- und Kunstunterricht berufen ist, eine Lücke im Gesamtunterricht unserer
Schulen auszufüllen, insofern er wie nicht leicht ein anderes Fach fähig ist, Kräfte,
die sonst brach liegen bleiben, die aber für das Leben ungemein wertvoll sind, zu
wecken und zu entwickeln, nämlich die Gest altungskraft und Phantasie. Dadurch
bildet dieser Unterricht eine wertvolle durch nichts anderes zu ersetzende Ergänzung
des übrigen Unterrichts, der sich vorwiegend an den Verstand und an das Ge-
dächtnis des Schülers wendet. Nachdem diese Erkenntnis in die Praxis übertragen
wurde, erhielt der Zeichenunterricht erst seinen tieferen Wert für die allgemeine
Geistesbildung unserer Schüler.
Was wir also anstreben und was uns hauptsächlich vom alten Zeichen-
unterricht trennt, der in erster Linie manuelle Fertigkeiten entwickeln wollte, das
ist: die produktiven Kräfte des Schülers zu bilden. Diese Forderung
ist ein Grundpfeiler des neuen Zeichenunterrichts. Und derjenige Lehrer, der davon
nicht durchdrungen ist, darf keinen Anspruch darauf erheben, seine Aufgabe im
tieferen Sinn erfasst zu haben und wenn er auch alle Lehrstoffe zeichnen liesse,
die in sämtlichen neuen Lehrplänen verzeichnet sind.
Wir meinen nun, eine derartige grundlegende Forderung hätte in der Ziel-
bestimmung unbedingt zum Ausdruck kommen müssen.
Diese hätte demnach folgende Fassung erhalten: Ausbildung der Fähig-
keit, klare Gesichtsvorstellungen zu bilden und in Form und Farbe
 
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